Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
und das hügelige Land verschmolz fast nahtlos mit der flachen weißen Fläche. Sie gaukelte vor, man könnte darauf laufen - geradewegs auf die Heimat zu, aber das Rumoren und Knacken unter ihr, schon bei den ersten Schritten, hielt Runa davon ab: Es klang, als hocke in den unsichtbaren Tiefen ein Wesen, das bereit war, sie zu verschlingen.
Und dann eines Tages wurde es wärmer, das Eis brach, kleinere Schollen trieben auf dem Wasser, die in den Wellen lustlos schaukelten. Erst wurde das Eis so schmutzig grau wie das Wasser, dann schmolz es. Etwas bunter wurde die Welt, wenn am Abend die untergehende Sonne ein wenig Rosa an den Himmel hauchte und die Wolken hauchzarte Fäden spannen, von dunklem, aber reinem Blau. Der Winter hatte also doch Farben, und er hatte doch Leben, wenn es auch noch unter der schweren Schneedecke, die nur langsam dünner wurde, warten musste.
Der Frühling kam langsam, aber stetig. Irgendwann waren die Nächte nicht mehr ganz so lang, und der Wind nicht mehr ganz so bissig. Der Himmel wurde von Vögeln durchpflügt, die laut und hungrig kreischten, Nester bauten und darin ihre Eier legten.
Runa dachte daran, wie sie einst mit ihrer Großmutter an den Stränden des Fjords Eier gesucht und erbeutet hatte. Hier war das um vieles schwieriger - die Küste war steiler, die meisten Nester auf halber Höhe zwischen Klippe und Meer erbaut, und sie leer zu räumen erwies sich zwar als ertragreich, aber ungleich gefährlicher. Doch die Angst, in die Tiefe zu stürzen und dort zu zerschellen wich ihrer Abenteuerlust.
So entschied Runa, sich an einem Seil, gewunden aus Fell und Leder, von der Klippe herunterzulassen und auf halber Höhe so lange hin- und herzupendeln, bis sie nach den Nestern greifen konnte. Sie war stark, sie wusste, sie konnte es schaffen.
Gisla sah das anders. Sie verging vor Angst, als Runa den Strick um einen mageren Baum band, der nach dem Winter nur morsche Äste gegen den Himmel reckte.
»Vielleicht bist du stark«, jammerte sie, »aber der Baum ist es nicht. Nie und nimmer hält er dein Gewicht.«
»Dann halte mich eben du!«, gab Runa knapp zurück.
Also wurde der Strick nicht nur um den Baum gewickelt, sondern auch um Gisla, die trotz des Widerstrebens stets befolgte, was Runa ihr befahl, und die, an den Baum geknotet, wie eine Gefangene aussah, nicht wie eine tatkräftige Helferin beim Eierjagen.
Stramm spannte sich der Strick, als Runa sich daran langsam über die Klippe ließ. Zunächst sah sie nur grauen Stein, dann erst die Nester. Mit beiden Beinen, aber nur mit einer Hand, damit die andere frei war, umklammerte sie das Seil, und indes das Meer unter ihr rauschte und die Vögel über ihr kreischten, begann sie, hin- und herzuschwingen. Nur zu bald hatten die Tiere erkannt, worauf es Runa abgesehen hatte. Beim ersten Mal sahen sie ihr noch tatenlos zu, wie sie vergebens nach einem Ei griff und mit leeren Händen am Nest vorbeischwang. Beim zweiten Mal schossen sie auf sie herab und hackten mit ihren spitzen Schnäbeln nach ihrer Hand. Sie musste um sich schlagen, um sie zu vertreiben. Gisla hörte sie wütend schimpfen.
Nach einer Weile wurden Runas Füße gefühllos, ihre Hände auch, aber die Wut auf die wilden Vögel und der Hunger auf die Eier gaben ihr Kraft. Beim dritten Mal griff sie sich ein Ei und achtete nicht auf den Vogel, der unmittelbar an ihrem Kopf vorbeisauste, aber es letztlich nicht wagte, sich mit so einem großen Feind anzulegen. Ihr Triumph währte nicht lange. Runa stellte fest, dass sie nicht gleichzeitig das Ei halten und nach oben klettern konnte, und die Wut auf den Vogel richtete sich auf sich selbst. Der Vogel hatte ihren Zorn nicht verdient, da er nur dem Instinkt folgte, seine Brut zu retten - sie jedoch ungleich mehr, weil sie nicht daran gedacht hatte, sich ein Ledersäckchen um den Hals zu hängen und darin die Eier zu sammeln. Sie zerbrach das Ei, schlürfte seinen Inhalt aus und kletterte mit gelb verschmierten Lippen hoch.
Gisla war kalkweiß im Gesicht vor Angst um Runa. Als Runa sich aufseufzend neben ihr fallen ließ, um den Strick zu lösen, kehrte etwas Farbe in Gislas Gesicht zurück, und Runa musste plötzlich lachen. Welch irrwitzigen Anblick sie wohl geboten hatten - die eine an den Baum gebunden, die andere mit einem Ei in der Hand, das ihr sämtliche Bewegungsfreiheit nahm, an einem Seil baumelnd! Der Laut, der aus ihrem Mund tönte, war hell und klar, hatte nichts mit dem üblichen heiseren Murmeln gemein und
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