Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
weil sie solch ungewohnte Rollen innehatten: Runa die des Schiffbauers, Gisla die der Hausfrau.
Der Winter blieb kalt, und obwohl Runa unter dem beißenden Wind litt, mochte sie es, draußen zu sein, mochte, wenn ihre Schritte auf dem Schnee knirschten, wenn ihr Atemhauch ihr Gesicht wie eine Wolke umnebelte und wenn die stocksteifen Glieder ob des angestrengten Werkens geschmeidiger wurden. Sie mochte es vor allem ob des Wissens, dass sie in diesem Winter der Kälte nur tagsüber ausgeliefert war, sie abends aber ins Warme zurückkehren konnte.
Von allen Werkzeugen, die sie besaß, arbeitete Runa in diesen Tagen mit zweien am meisten und am liebsten: mit einer langstieligen Axt und einem kurzen T-förmigen Beil. Mit Ersterer trieb sie Keile in die Stämme, um sie zu spalten, mit dem Beil entrindete sie das Holz. Schließlich hatte sie genug davon, aber immer noch zu wenig Ahnung, wie sie es zu einem Schiff zusammenfügen sollte. Fürs Erste begnügte Runa sich mit der Feinarbeit, nahm einen Hobel, um die Kanten des Holzes zu glätten, bohrte schließlich Löcher hinein, indem sie sämtliches Körpergewicht auf einen Bohrer legte und diesen drehte, verband mehrere Holzstücke mit kleinen Stäben und stopfte in die Ritzen Holzfasern. Eigentlich wäre wollenes Garn für diesen Zweck besser geeignet gewesen, aber ein solches hatte sie nicht. Und eigentlich sollte sie die Planken, die sich später unter Wasser befinden würden, mit Tannenwurzelfasern bedecken, damit der Schiffsboden bei schwerer See nachgeben konnte, aber sie wusste nicht, wo sie diese im Winter finden sollte. So begnügte sie sich damit, Holz an Holz zu hämmern, und daraus wurde ein immer größeres Stück, wenn es auch bei weitem nicht die Form eines Schiffes hatte.
Die Begeisterung, mit der sie sich in den ersten Tagen auf die Arbeit gestürzt hatte, begann zu schwinden. Für alles, was gelang, waren so viele Versuche nötig, die missglückten. Und bei allem, was sie tat, begleiteten sie Zweifel: Würde sie tatsächlich etwas bauen können, das sich auf dem Wasser halten konnte? Und wenn es ihr gelänge - war das Schiff womöglich zu klein, um Sturm und Fluten zu trotzen? Oder gar zu groß, sodass sie es nie und nimmer ins Meer würde ziehen können?
Als die Zweifel übermächtig wurden, hielt sie inne. Sie musterte, was sie bisher geschaffen hatte, und sagte sich, dass es müßig war, an das Ganze zu denken. Überleben bedeutete, Schritt vor Schritt zu setzen und damit einfach nicht aufzuhören. Und auch beim Schiffbau galt es, eins nach dem anderen zu tun, den Mut nicht zu verlieren und jeden Tag aufs Neue sämtliche Kräfte heraufzubeschwören.
Zumindest Letztere gingen Runa nie aus. Selbst am Abend wütete die Unrast noch in ihr, die sie des Tags frisch und tatenhungrig hielt. Anstatt ruhig vorm Feuer zu sitzen und sich auszuruhen, begann sie, das große Ruder zu schnitzen, mit dem sie das Schiff würde steuern können, und nachdem das Ruder fertig war, fertigte sie einen Drachenkopf, der die bösen Meeresgeister erschrecken sollte. Es war sehr mühsam, dem Drachen ein Gesicht zu geben. Das Holz war zu frisch dafür, obendrein Nadel- statt Laubholz, und neigte zu Rissen. Am Ende sah der Drache nach einem solchen aus, aber sonderlich Furcht erregend leider nicht.
Da Runa nichts mehr zu schnitzen einfiel, half sie an den kommenden Abenden Gisla, einen alten Webstuhl zu reparieren, den sie unter anderen brauchbaren Dingen in einem der angrenzenden Häuser gefunden hatten. Stuhl, Kettfäden und Webgewichte waren schon vorhanden, das Schiffchen, mit dem der Faden durch die Kettfäden glitt, und das Webblatt, mit dem man den Faden festschlug, fertige sie nun selbst an. Was weiter fehlte, war Wolle, doch Gisla trennte eines ihrer Unterkleider auf und webte die Fäden danach neu aneinander, und mit viel Wohlwollen ließ sich hinterher behaupten, der Stoff sei nun fester und schöner.
Als Runa Gisla beim Weben beobachtete, fragte sie sich, woraus sie ein Segel würde fertigen können. Ob Felle sich dafür eigneten? Sie wusste auch nicht, wie sie Mast und Rahe, die ein solches Segel hielten, bauen sollte.
Aber wieder schluckte sie ihre Zweifel. Schritt für Schritt, sagte sie sich, ich muss einfach nur Schritt vor Schritt setzen.
Um nicht darüber nachzudenken, was ihren Schiffbau scheitern lassen könnte, sprach sie viel mit Gisla. Nun, da sie beide ihre Sprachen so gut beherrschten, mussten sie sich nicht damit begnügen, über Essen und
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