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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Juchzen und Lachen der letzten Tage. Sie begann, Thure zu umschleichen, als wollte sie die Stelle suchen, wo sie ihn am schnellsten, leichtesten und tödlichsten verwunden konnte. Dieser lag immer noch reglos da, nur die Brust hob und senkte sich leicht. Die Augen waren in tiefen Höhlen versunken. Auf seiner Brust regte sich ein Käfer, der zwischen der zerfetzten Kleidung hervorgekrabbelt kam.
    Runa hob langsam ihr Messer.
    »Tu es nicht!«, rief Gisla und fiel ihr in den Arm.
    Runa starrte sie an. Eben noch hatte grollender Hass in ihrem Gesicht gestanden, nun wich er Verwirrung - der gleichen Verwirrung, die auch Gisla überkam. Sie konnte es sich nicht erklären, warum sie ausgerechnet den grauenhaftesten Mann, dem sie je begegnet war, schützte, und warum sie keine Angst vor ihm fühlte, sondern nur Überdruss. Überdruss vor Gewalt und Tod. Vor noch mehr Blutvergießen und Grausamkeit.
    Gisla erhob sich, ohne Runas Arm loszulassen. »Du hast stets gesagt, wir oder die anderen. Nur diesmal gibt es kein Oder. Er ist gänzlich wehrlos und kann uns nicht töten. Also tun wir's auch nicht.«
    »Wenn, dann töten nicht wir ihn ... sondern ich.«
    Gislas Griff löste sich jetzt. Sie glaubte ein Stöhnen zu vernehmen.
    »Sieh ihn dir doch an!«
    »Das tue ich! Und ich sehe die bösartigste Kreatur, die je auf dieser Welt lebte«, stieß Runa bitter aus.
    Gisla widersprach nicht, obwohl sie nicht ganz sicher war, ob jener Taurin nicht genauso bösartig war.
    »Mag sein«, sagte sie. »Und dennoch ...«
    Ihr fiel nichts ein, was sie Runa entgegenhalten konnte. Ihr fiel auch nichts ein, um den eigenen Drang zu bekämpfen, der plötzlich in ihr hochstieg und stärker war als ihr Widerwille vor Gewalt: den Fuß zu heben, auf ihn einzutreten, ihn zu strafen, ihm seine Untaten zu vergelten.
    Doch sie tat es nicht. »Diligite inimicos vestros«, betete sie, »bene facite his, qui vos oderunt; benedicite male dicentibus vobis, orate pro calumniantibus vos.«
    Liebet eure Feinde. Tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet, die euch verfluchen. Betet für die, die euch beleidigen.
    Hätte sie die Worte in vertrauter Sprache ausgesprochen, hätte sie sie nicht geglaubt. Auf Latein verkündet verhießen sie jedoch ein Gebot, das mehr Gewicht hatte als Hass und Rachsucht.
    »Was sagst du da?«, fuhr Runa sie an.
    »Ich spreche von Gottes Gnade, von Gottes Barmherzigkeit. Ja, Gott ist gut! Gott ist gnädig!«
    Sie hatte sich von Thure abgewandt, vielleicht, weil sein Anblick ihren Worten das Gewicht genommen hätte, vielleicht, weil das, was sie sagte, nichts mit ihm zu tun hatte, sie nicht ihn schützte, sondern sich selbst. Oder vielmehr die, die sie gewesen war.
    Im Winter hatte sie vermeint, dass nicht viel davon übrig geblieben wäre. Sie war ständig auf den Beinen gewesen, anstatt zu ruhen und müßigzugehen, hatte ihre Kleider genäht und ihr Essen gekocht, anstatt versorgt zu werden. Vor allem aber: Sie hatte nicht gesungen, nicht gebetet, war nicht im Streben aufgegangen, anderen Menschen zum Wohlgefallen zu gereichen, der verbitterten Mutter und dem gequälten Vater eine Freude zu bereiten. Diese Gisla schien es nicht mehr zu geben. Es gab nur jene, die Runa oder dem eigenen Trieb zu leben gehorchte, deren Tun einzig der Nützlichkeit folgte und deren Leben einem Kleid aus festem Leinen glich, zwar brauchbar, aber ohne Farbe und ohne Schmuck.
    Doch nun war Frühling - und der Frühling hatte Runa dazu gebracht zu lachen und in ihr die Sehnsucht erweckt, das zu tun, was mehr als nützlich war, was schön war, wahrhaftig und gut, liebevoll und freundlich.
    »Gott ist gut«, wiederholte sie, etwas bekundend, das sie in der Zeit der langen Nächte und kargen Mahlzeiten nicht mehr hatte glauben können.
    Nun konnte sie es glauben, und sie konnte es sagen - vor dem sonnigen Himmel, vor dem türkisfarben funkelnden Meer, selbst vor dem ärgsten Feind, weil der nicht mehr drohend die Hände gegen sie erhob, sondern schwer verletzt vor ihnen lag.
    Runa schüttelte den Kopf. Sie hatte ihr Messer sinken lassen, aber ihre Feindseligkeit gegenüber Thure hielt unvermindert an.
    »Unsere Götter sind nicht gut, sondern hässlich«, stieß sie aus.
    Gisla starrte sie fragend an.
    Runa deutete auf Thure. »Meine Großmutter hat mir einst über Odin erzählt, dass er einäugig, hässlich und in einen schmutzigen blauen Mantel gehüllt ist. Wahrscheinlich gleicht er Thure aufs Haar. Aber Odins Ziel ist es, die Welt vor dem Chaos zu

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