Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
hätte in seiner Reinheit eigentlich nur über Gislas Lippen kommen können. Die starrte ihre Gefährtin verwundert an.
Die Sonne blendete Runa, und das Licht war nicht nur grell, sondern warm.
Es ist Frühling, dachte sie. Es ist endlich Frühling. Voll von neuem Lebensmut sprang sie auf.
»Komm, lass es uns noch einmal versuchen!«, rief sie begeistert und ließ sich erneut mit dem Seil über die Klippen herunter.
Der Schiffbau ruhte in den nächsten Tagen. Mit ähnlicher Besessenheit, mit der sie Holz geschlagen und aneinandergenagelt hatte, ging Runa als Eierdiebin ans Werk. Nie wieder machte sie den Fehler, sich ohne Ledersäckchen in die Tiefe zu lassen, und dort konnte sie nach einiger Gewöhnung länger hängen, ohne dass ihr die Hände taub wurden. Sie lernte überdies, die Richtung besser zu bestimmen, wenn sie hin- und herschwang, und griff immer seltener daneben.
Alsbald schmeckten die Eier nicht mehr ganz so gut wie am ersten Tag, so wie alles an Geschmack verliert, wenn man es zu oft und zu leicht bekommt. Aber das Triumphgefühl, dass es Frühling war und sie den Winter überstanden hatten, und das Triumphgefühl darüber, dass die Möwen sie mit ihrem Kreischen genauso wenig einschüchtern konnten wie alle anderen Feinde, hielt an.
Eines Tages, als Runa wieder einmal an der Klippe hin- und herbaumelte, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Augen eines unsichtbaren Beobachters auf sie gerichtet waren. Nach dem einsamen Winter war dieses Gefühl ungewohnt - und gerade darum so untrüglich. Sie blickte in die Weite, sah Meer, Himmel und Fels, Treibholz, Schlick und Algen. Sie kletterte etwas tiefer, sah nun nicht länger nur Blaues und Graues und Braunes, sondern etwas Buntes. Es lag dort unten auf jenem schmalen Streifen zwischen Wasser und Fels.
Vielleicht waren es Blumen, die trotz des salzigen Bodens blühten, vielleicht ein Mensch oder Handelsgut, das von einem an den Klippen zerborstenen Schiff ans Ufer gespült worden war. Runa zog sich am Seil nach oben. Das Holz des Baumes knarrte bedrohlich, als sie die Klippe erreichte, und Gisla war ob der Anstrengung, ihre Beine in den Boden zu stemmen und sich an den Baum zu klammern, einmal mehr leichenblass und schweißnass.
»Was ist geschehen?«, fragte sie.
Runas Irritation schien ihr nicht entgangen zu sein.
»Wir müssen zum Strand«, erklärte Runa knapp und ohne ihre Ängste auszusprechen.
Zum Strand zu gehen hieß, ein ganzes Stück zu laufen, bis die Klippen nicht mehr so hoch und steil standen, und über spitzen Stein nach unten zu klettern.
Als sie endlich im weichen Sand standen, war nichts Buntes mehr zu sehen, aber wieder beschlich Runa das Gefühl, dass sie nicht länger allein waren. Und so gingen sie weiter, Runa zügig voran, Gisla langsamer hinterher. Beide blieben sie gleichzeitig stehen, als sie die Gestalt erblickten. Aus der Ferne hatte sie ausgesehen wie ein Baumstamm, morsch und faulig und von den Fluten an den Strand gespült. Aus der Nähe betrachtet wurde aus dem Baumstamm ein Mann.
Er lag reglos, wie tot im Sand. Erst als sie sich über ihn beugten, sah Runa, dass sich seine Brust hob und senkte. Die Kleidung war zerrissen und an manchen Stellen dunkel von gestocktem Blut. Und dann sah sie die Narben in seinem Gesicht.
Der Mann, der hier lag und atmete, war Thure.
Runa war wie so oft die Schnellere - und die Vorsichtigere. Kaum hatte sie Thure erkannt, wich sie zurück und zückte ihr Messer. Gisla hingegen blieb über ihn gebeugt und betrachtete ihn eingehender. Die Haut war so blut- und schmutzverkrustet, dass sie nicht recht entscheiden konnte, ob es überhaupt noch etwas an ihm gab, was nicht vertrocknet war. Dieser Mensch, einstmals aus Fleisch und Blut, schien ob der Qualen, von denen nicht nur alte, sondern auch neue Wunden kündeten, sogleich zu Staub zu zerfallen, aber er lebte noch.
Wenn es nach Runas Willen ging, sollte das nicht mehr lange so sein: In ihrem Blick stand Mordlust. Zu viel hatte er ihnen angetan. Einzig die Tatsache, dass dieser Feind, so er denn noch einer war, keine Kräfte mehr hatte und sein Leib einer einzigen großen Wunde glich, hielt sie davon ab, ihr Messer sofort zu gebrauchen.
»Er ist verletzt!«, rief Gisla.
Runas starre Haltung löste sich ein wenig. Der Griff um das Messer blieb unbeirrt fest.
»Gut«, murmelte sie. »Dann ist er hoffentlich bald tot! Und ist er's nicht, helfe ich nach.«
Ihre Stimme klang heiser und gepresst und atmete nicht mehr das
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