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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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auf und stellte sich ihr in den Weg.
    »Bist du närrisch? Du gehst nicht zu ihm!«
    Gisla blickte sie schweigend an. In ihrer Miene lag etwas, was Runa nicht deuten konnte und was weniger Mitleid glich, sondern Stolz. Sie wusste, dass Gisla eine Königstochter war, aber bis jetzt hatte sie nie eine Eigenschaft an den Tag gelegt, die Runa als königlich erschien, hatte weder ein außergewöhnliches Talent bewiesen noch besonderen Mut oder Stärke. Doch in diesem Augenblick bekundete sie die Würde eines Menschen, der mit Zähigkeit und Entschlossenheit wettmacht, was ein anderer ihm an Kraft voraushat.
    »Wir sind keine Tiere«, sagte sie leise. Als sie es wiederholte, klang sie nicht nur entschlossen, sondern auch flehentlich: »Wir sind keine Tiere!«
    Da erst ging es Runa auf, dass sie nicht Thure retten wollte, sondern sich selbst.
    Keine Tiere ..., echote es in ihrem Kopf.
    Sie dachte an die kreischenden Möwen, die stets bereit waren, ihresgleichen das Futter wegzupicken und ihr Nest zu verteidigen - beides ein Trachten, das ihr wohl vertraut war und das auch sie selbst antrieb. Doch anders als die Möwen hatte sie ein Schiff gebaut, um heimzureisen, und hatte damit den hinlänglichen Beweis erbracht, dass sie weiterdenken und mehr vom Leben fordern konnte als ein Raubvogel.
    Gisla hingegen hatte kein Schiff gebaut, und Runa ging auf, dass sie, wenn sie Thure zu essen brachte, auf ihre Art den Wunsch nach einem besseren Leben und die Hoffnung auf eine Heimat lebendig zu halten versuchte - eine Heimat, die weit mehr war als bloß ein Land.
    Runa gab ihr widerwillig den Weg frei, aber sie folgte ihr. Wenn sie sie schon nicht davon abhalten konnte, erneut zu Thure zu gehen, würde sie sie keinesfalls allein in dessen Nähe lassen.
    Das Licht des Tages war geschwunden, der Wellengang schwach, die Vögel kreischten nur mehr lustlos, und Thure lag immer noch auf demselben Fleck. Er schien sich kein bisschen bewegt zu haben, seit sie ihn zurückgelassen hatten. Seine Augen waren wieder geschlossen.
    Gisla stellte hastig die Schüssel vor ihm ab. Das Mahl war mehr als bescheiden - sie hatte Algen mit Eiern verrührt und ein paar Brotkrumen, nicht aus Mehl, sondern aus Birkenrinde gebacken, daraufgestreut. Fleisch war keines dabei.
    »Hier, nimm«, murmelte sie schlicht.
    Thure rührte sich nicht.
    »Du hast getan, was du tun musstest«, rief Runa. »Nun lass uns wieder gehen.«
    Ob ihrer herrischen Worte erwachte Thure. Erst zuckte sein Leib nur, dann richtete er sich ächzend auf, ein wenig höher als vorher. Eine Weile starrte er die beiden Frauen an, dann das Essen. Er mochte alles vergessen haben - nur nicht, wie schmerzlich Hunger sein kann und welche Wohltat, wenn man ihn stillt. Er griff nach der Schüssel, schlürfte den Inhalt schmatzend und gierig in sich hinein, nahm den nächsten Bissen, noch bevor er den vorangegangenen geschluckt hatte.
    Wir sind keine Tiere, dachte Runa trotzig, aber er gleicht einem ...
    Anstatt zu gehen und Gisla mit sich zu ziehen, sah sie ihm schweigend zu. So karg das Essen auch ausgefallen war, es schien Thure ein wenig Kraft zu verleihen, und die genügte, zum Felsen zu robben und sich daranzulehnen. Sand rieselte von seinem Gesicht. Der Anblick seiner Wunden war grässlich - in seine Augen zu blicken hingegen erträglicher als früher. Da glommen weder Wahnsinn noch Bosheit auf. Nur Verlorenheit, unendliche Verlorenheit.
    Er blickte erst Runa an, dann Gisla.
    »Wie heißt du?«, fragte er.
    Zögerlich nannte Gisla ihren Namen. »Und du weißt wirklich nicht, wer du bist?«, fragte sie dann.
    Runa fand, dass das ein Fehler war. Der Name erschien ihr plötzlich als ein kostbarer Schatz, den man nicht leichtsinnig verraten durfte.
    »Gisla«, wiederholte Thure, um dann kopfschüttelnd zu bekunden: »Nein, ich weiß wirklich nicht, wer ich bin.«
    »Oh«, schaltete sich Runa grollend ein, »ich weiß es hingegen gut! Thure heißt du, und du bist kein Mensch, sondern das Kind von Riesen, bösartig und auf Zerstörung aus.«
    Er blickte sie fast treuherzig an - und die Worte, die sie gesagt hatte, kamen ihr jäh widersinnig vor. So wie er aussah, war er nicht das Kind von Riesen, sondern von Hel, der hässlichsten aller Göttinnen. Man sagte ihr nach, dass sie - halb schwarz und halb fleischfarbig - einem verwesenden Leichnam glich. Sie lebte in einem mächtigen Palast mit riesenhohen Mauern und großen Toren, und jener Palast hieß Eisregen, ihr Schlüssel hieß Hunger, ihr Messer

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