Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Hungersnot, ihr Diener wurde Greisenhaftigkeit gerufen, ihre Dienerin die Kindische, und ihre Spindel Bettlägrigkeit.
Hastig schüttelte sie den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, griff schließlich nach der leeren Schüssel und ging hastig fort. Gisla folgte ihr bereitwillig. Schweigend starrte Thure ihnen nach, wie sie den Strand entlanggingen und die Felsen hochkletterten.
So wie er ihnen an diesem Tag nachstarrte, blickte er ihnen am nächsten Morgen entgegen: verwirrt, ein wenig traurig, zugleich erleichtert, nicht allein zu sein. Nach drei Tagen lächelte er erstmals zaghaft.
Anfangs brachte Gisla ihm nur zu essen, später ein paar Felle und einen der Hornkämme. Seine Haare blieben zerzaust - vielleicht, weil er gar nicht erst versuchte, sich zu kämmen, vielleicht, weil der Wind die eben noch entwirrten Strähnen erneut verknotete. Das andere war ihm nützlicher: Mit den Fellen bedeckte er sein zerrissenes Gewand, und das Essen stopfte er gierig in sich hinein. Seine Haut blieb zwar narbig, aber sie war nicht länger grau, sondern färbte sich rosig.
Es ging ihm von Tag zu Tag besser, und Runa ärgerte sich von Tag zu Tag mehr darüber. Jedes Mal, wenn sie zum Strand aufbrachen, bekundete sie ihre Hoffnung, ihn tot vorzufinden, mit vergiftetem Leib oder vom Meer verschlungen - zu schwach, sich gegen die eisige Umarmung der Fluten zu wehren. Jedes Mal wurde sie aufs Neue enttäuscht. Seine Wunden verheilten, seine Kräfte nahmen zu - nur wer er war und woher er kam, das wusste er weiterhin nicht.
Am vierten Tag konnte er aufstehen. Als er ihnen diesmal entgegenblickte, stand er neben seinem Stein, anstatt dort nur zu lehnen.
Runa umklammerte argwöhnisch ihr Messer.
Gisla hingegen sah Thure erwartungsvoll an. »Sein Körper gleicht wieder dem eines Menschen«, murmelte sie »Er wird seine Erinnerungen nun vielleicht zurückerhalten.« An ihn gewandt fragte sie treuherzig: »Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?«
Er blickte verwirrt. »Schmerzen«, stieß er schließlich aus.
Bis jetzt hatten Gisla und Runa nicht darüber geredet, was ihm wohl zugestoßen war. Eigentlich hatten sie überhaupt nicht über ihn geredet.
Nun nahm Gisla Runa zur Seite. »Es wundert mich immer noch, wie er den Kampf gegen Adariks Männer überleben konnte«, sagte sie leise. »Vielleicht haben die ihn gefangen genommen, ihn weiter gequält. Doch irgendwie muss er ihnen entkommen sein, den Winter überlebt haben und wie wir die Küste entlanggezogen sein, bis er nicht mehr konnte.«
Sie sprach es aus, als wäre es ein Wunder. Runa knirschte mit den Zähnen. Ein Fluch, dachte sie, das ist ein Fluch.
»Doch wenn Thure zufällig auf uns gestoßen ist«, sprach Gisla eine Furcht aus, die sie bis jetzt für sich behalten hatte, »dann könnten Adariks Männer uns auch finden!«
»Wären sie tatsächlich in der Nähe, wäre das schon geschehen«, entgegnete Runa knapp, um wütend fortzufahren: »Ab heute soll er selbst für sich sorgen. Er kann nun wieder gehen - also braucht er unsere Hilfe nicht mehr.«
»Aber wir vielleicht die seine«, gab Gisla zu bedenken. »Auch wenn er nicht bei Sinnen ist, er ist ein Mann und stark. Er kann dir beim Bau des Schiffes helfen. Und später auf See.«
Runa lachte bitter auf. »Ich soll mit Thure gemeinsame Sache machen? Mit dem Mörder meines Vaters? Da könnte ich das Schiff gleich aus morschem Holz bauen.«
Gisla widersprach nicht, und auch Thure sagte an diesem Morgen nichts, doch als sie zurück zum Haus gingen, gestand sich Runa im Stillen ein, dass Thure ganz allein auf dieser Welt war wie sie, alles verloren hatte und sich vielleicht auch nach seiner Heimat sehnte. Gewiss, es war ihm nicht zu trauen, und das Fehlen von Erinnerung vielleicht nur ein weiteres seiner bösartigen Spiele. Doch ob er nun krank oder böse war - seine Hände schienen so kräftig wie früher. Er verstand mehr vom Schiffbau als sie. Und er wusste besser als sie, wie man mit einem Schiff Norvegur ansteuerte.
Obwohl Runa es ihr verboten hatte, brachte Gisla Thure weiter zu essen. Und obwohl Runa verkündet hatte, sie wolle keine Zeit mehr an Thure verschwenden, begleitete sie sie auch in den nächsten Tagen an den Strand. Allerdings blieb sie in immer größerem Abstand zu ihnen stehen und hörte darum auch nicht, was Thure eines Morgens zu Gisla sagte.
Diesmal hatte er noch neben seinem Stein geschlafen, als wäre er schwer und starr, unverrückbar und reglos wie ein solcher. Gisla bückte
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