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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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bewahren. Thure hingegen ist auf Zerstörung aus.«
    Sie hatte kaum geendet, als Gisla wieder ein Stöhnen vernahm, und diesmal kam es untrüglich aus seinem Mund, nicht vom Meer oder vom Wind. Die Möwen erwiderten es mit einem Kreischen - ein durchdringender Laut, der den Ohnmächtigen endgültig weckte.
    Sein Atem ging mit einem Mal rasselnd, seine Hände verkrampften sich, sein Kopf kippte zur Seite. Er schlug die Augen auf, schloss sie sogleich wieder, das Licht war ihm zu grell.
    Der kurze Blick in diese Augen ließ Gisla einen Augenblick im Glauben schwanken, dass Gott gut war, dass sie jetzt im Frühling wieder die Alte sein könnte und dass dieser geschwächte, geschundene Mann nicht länger ihr Feind war. Und als Runa erneut drohend ihr Messer hob, fiel sie ihr nicht in den Arm.
    Aber dann öffnete Thure wieder die Augen, und in diesen Augen stand kein verrücktes Funkeln, kein kalter Spott, keine unmenschliche Grausamkeit, sondern nur Leere.
    »Eine falsche Bewegung, und du bist tot«, zischte Runa.
    Er glotzte sie an. Seine Augen waren nicht schwarz, wie Gisla sie in Erinnerung hatte, sondern grau wie das Wintermeer, dessen Wellen alles mitrissen, was ihm zu nahe kam.
    »Wer bist du?«, fragte er verwirrt.
    »Ich bin die Frau, die ihren Vater rächen will«, knurrte Runa und bleckte ihre Zähne wie ein Raubtier.
    Er ging nicht auf ihre Worte ein. »Und wer bin ich?«, fragte er.
    Gisla sah, wie Runa der Atem stockte. Thure indes richtete sich stöhnend auf. Es bereitete ihm große Mühe, und er konnte seinen Kopf kaum mehr als eine Handbreit heben. Seine Haut, eben noch gelblich wie Pergament, schien nun grau.
    »Wer bin ich?«, fragte er wieder.
    Runa blickte ungläubig auf ihn herab: »Du hast es vergessen?«, fragte sie. »Du kennst deinen Namen nicht mehr?«
    Thure schüttelte den Kopf.
    Schwarze Vögel flogen kreischend über ihnen, nicht länger nur Seeschwalben oder Krähen, auch Raben.
    »Hugin und Munin ...«, murmelte Runa.
    »Hugin und Munin?«, wiederholte Gisla verwirrt und glaubte kurz, sie hätte Thure gleich den Verstand verloren.
    »Die Raben Odins hießen Hugin und Munin«, erklärte Runa. »Und das bedeutet: Gedanke und Erinnerung. Mir scheint, dass der, der Erinnerung hieß, eben ein Spottlied auf Thure singt.«
    Dies ist ein Zeichen Gottes, dachte Gisla.
    Thure wusste nicht mehr, wer er war. Aber sie wusste wieder, wer sie sein wollte.
    Solange er sie aus seinen verwirrten Augen anstarrte, war Runa nicht fähig, erneut ihr Messer zu heben. Erst nachdem sie sich von ihm abgewandt und ihn am Strand liegen gelassen hatten, überkam sie bittere Reue, dass sie ihn nicht getötet hatte. Von nun an würde sie keinen Augenblick der Ruhe finden, sondern immer daran denken müssen, was er wohl gerade tat. Erleichtert stimmte sie nur, dass er nicht aussah, als könnte er in seinem jämmerlichen Zustand sonderlich viel tun.
    Was sie beschwichtigte, schien Gisla Sorgen zu bereiten: »Wenn er hier am Strand liegen bleibt, stirbt er«, murmelte sie. »Er wird erfrieren. Oder verhungern.«
    »Na und?«, fuhr Runa auf. »Was immer ihm zugestoßen ist - es ist nicht unsere Schuld, dass er so erbärmlich endet. Nur weil er sich nicht an sie erinnern kann, heißt das nicht, dass er nicht all diese grausamen Taten vollbracht hat.«
    Gisla sah Runa zweifelnd an.
    Runa zuckte die Schultern. »Vielleicht belügt er uns und weiß nur allzu gut, wer er ist und wer wir sind«, gab sie zu bedenken. »Lug und Trug - das ist sein Elixier.«
    »Aber seine Schmerzen sind gewiss echt! Hast du seine vielen Blessuren gesehen?«
    »Ja, ich gönne ihm jede einzelne. Und jetzt komm.«
    Sie packte Gisla am Arm und ließ sie nicht wieder los, bis sie das Haus erreicht hatten. Den ganzen Weg am Strand entlang fühlte sie sich von Thures leerem, verständnislosem Blick verfolgt und wusste nicht, was größer war - ihre Angst und ihr Unbehagen oder ihre Rachsucht und Genugtuung. Ihre Gefühle waren ebenso zahlreich wie wirr - das Einzige, was ganz gewiss nicht dabei war, war Mitleid.
    Bei Gisla schien jenes hingegen überreich vorhanden. Zwar folgte sie Runa ohne Widerstand ins Haus, um sich hier, wie so oft, dem Kochen zu widmen, doch sobald es verführerisch aus dem Kessel über dem Feuer duftete, füllte sie eine Schüssel mit Essen und wandte sich zum Gehen.
    Runa brauchte eine Weile, um zu begreifen, was sie vorhatte, so ungeheuerlich war der Gedanke, dass sie Thure tatsächlich etwas zu essen bringen wollte. Sie sprang

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