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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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sich und stellte das Essen auf das Tangbett. Als sie sich abwandte, ertönte ein Krächzen, ähnlich dem der Raben.
    »Hab Dank!«
    Sie blieb stehen, nicht vom Mitleid geleitet, sondern von Neugier - Neugier darauf, wie es sich anfühlte, sich an nichts erinnern zu können und sein Leben abzulegen wie alten, fleckigen Stoff, um wieder nackt wie ein Neugeborenes zu sein. Neugier auch, ob man solcherart nicht nur all sein Elend abschütteln konnte, sondern auch seine Bosheit. Gislas Gedanken wanderten erneut zu Gott.
    Die Seele war zwar unsterblich, alles, was der Mensch je getan hatte, in Gottes Buch verzeichnet, und der Allmächtige konnte sich sicher an alles und jeden erinnern - ganz gleich, ob der Mensch sein Gedächtnis verlor oder nicht, aber vielleicht konnte Gott noch ein Wunder wirken, das Wunder, dass ein Böser gut wurde. Der Mensch wiederum konnte, selbst wenn er böse war, für seine Sünden Buße tun, eine längere und härtere zwar für die besonders schweren, in jedem Fall aber eine, die das Schlechte irgendwann ausmerzte, gleich so, als wäre die Seele ein Stück Pergament, von dem man einzelne Worte schabte, um neue draufzuschreiben.
    So leer wie Thures Blick war, stand jedoch kein einziges Wort auf seinem Pergament. Sauber war es allerdings auch nicht.
    »Kannst du dich immer noch an gar nichts erinnern?«, fragte sie - und ihre Neugier, wie sich dergleichen anfühlte, wuchs.
    Wenn man Erinnerungen wegwerfen konnte wie Unrat - vielleicht würde sie eines Tages nicht mehr wissen, wie aus ihr, der Königstochter, eine Frau geworden war, die alles verloren hatte, nur das Leben nicht, und die um dieses Leben stetig kämpfen musste.
    Doch Thure verneinte nicht. »Ich glaube, ich habe geträumt«, sagte er. »Von meiner Mutter.«
    Gisla erschauderte. Undenkbar erschien ihr, dass ein Mensch, so vernarbt, dreckig und elend jemals frisch und rein und unschuldig aus einem warmen Leib gekrochen gekommen war. Er glich eher einem Wesen, das vom dreckigen Meer angeschwemmt worden war wie Algen und Treibholz.
    Sie trat dennoch näher. »Wie war sie ... deine Mutter?«
    »Oh, sie war eine böse Frau!«, stieß er aus. »Sie mochte es, wenn Menschen litten! Eines Tages hat sie eine Nachbarin verflucht, und die bekam darob einen missgestalteten Sohn ...«
    »So viel ist dir eingefallen?«
    »Es ist nicht sonderlich viel, wie mir scheint. Und ich weiß nicht, ob es wahr ist. Am Ende ist meine Mutter in Flammen aufgegangen.«
    Gisla zuckte die Schultern, wusste nichts zu sagen und beeilte sich, rasch zu Runa zurückzukehren. Sie wollte ihr von Thures Traum erzählen, doch diese brachte sie schroff zum Schweigen.
    »Erzähl mir nichts über ihn! Bring ihm meinetwegen zu essen, aber ich will nichts von ihm hören.«
    »Das Gute, das ich ... das wir an ihm tun, werden andere vielleicht dereinst an uns vollbringen«, sagte Gisla leise.
    »Du denkst, gute Taten wiegen wie Silber, und man kann mit ihnen wie mit solchem Handel treiben?«
    Gisla überlegte. Was Runa sagte, klang nicht sonderlich schön, aber wahr. Wenn sie der Welt zeigte ... wenn sie Gott zeigte, dass sie zwar in diesem ärmlichen Bauernhaus lebte, aber in ihrem Herzen immer noch dieselbe war wie in Laon, nicht verdorben von der Schlechtigkeit der Welt, nicht zerbrochen an den vielen Prüfungen ... dann hatte er vielleicht ein Einsehen und würde sie dorthin zurückbringen.
    Runa starrte sie nachdenklich an und wartete auf eine Antwort. Gisla blieb sie ihr jedoch schuldig und nutzte das Schweigen, um Runa gegen ihren Willen doch zu erzählen, was Thure geträumt hatte.
    »Was er dir erzählt hat, ist nicht die Geschichte seiner Mutter, sondern die der bösen Hexe Odine«, meinte Runa ärgerlich, nachdem sie geendet hatte.
    »Der Hexe Odine?«
    »Es ist eine Geschichte, die allen Kindern meiner Heimat erzählt wird. Meine Großmutter hat auch mir von ihr berichtet. Odine erfreute sich daran, wenn Menschen litten. Sie ließ Menschen nur glücklich werden, wenn sie ein Opfer brachten: die Liebenden Aril und Astrid zum Beispiel, die ihr gemeinsames Glück damit zu bezahlen hatten, dass ihr Sohn missgestaltet war. Und desgleichen dessen Sohn, der später seine Liebe opfern musste, um schön zu werden. Doch am Ende erhielt Odine die gerecht Strafe und verbrannte.«
    »Wie merkwürdig, dass er sich ausgerechnet daran erinnern kann!«, murmelte Gisla.
    »Das ist nicht merkwürdig - das klingt ganz nach dem Thure, den ich kenne«, rief Runa. »Er erzählt ständig

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