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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Geschichten von Göttern und Riesen, und es wundert mich nicht, dass ihm die einer bösartigen Hexe besonders gut gefällt. Er hört sich gerne reden. Und noch lieber sieht er sich Menschen morden und quälen.«
    Runa wandte sich abrupt ab und ging davon.
    Am nächsten Tag zögerte Gisla, Thure zu essen zu bringen, aber schließlich tat sie es doch. Diesmal fand sie ihn nicht schlafend vor, sondern mit dem Ellbogen auf den Stein gestützt. Sein Kopf ruhte nachdenklich auf den Händen. Noch ehe sie ihn fragte, ob er sich wieder an etwas erinnern konnte, erzählte er unwillkürlich, er habe einen Bruder, der ein überaus starker Krieger sei, vor allem aber ein unverwundbarer. Nur auf einer winzigen Stelle auf der Brust könne ein Schwert in sein Fleisch dringen und ihn tödlich verletzen.
    Gisla lauschte zunehmend verwirrt, doch als sie zu Runa zurückkehrte, erklärte diese, dass jener Krieger nicht Thures Bruder sei, genauso wenig wie Odine seine Mutter. Er habe vielmehr von Björn gesprochen, einer Gestalt aus den Märchen wie die Hexe, das Kind einer Fee und der Geliebte von Alfhilde, einer legendären Prinzessin und Anführerin einer Wikingerbande.
    Dass Thure sich, wenn auch nicht an sein Leben, so doch an diese Geschichten erinnerte, schien Runa allerdings neugierig zu machen: Am dritten Tag begleitete sie Gisla an den Strand und hörte diesmal mit eigenen Ohren, wie er die Geschichte von einem Hund erzählte, der ihn als Kind angefallen hätte. Wild und ungebärdig sei dieser gewesen, nur mit Gewalt zu bezwingen und sehr gefährlich, wenn die Gewalt nicht gereicht habe.
    Er tastete über sein Gesicht. »Vielleicht habe ich von seinem Angriff die Narben ...«
    Gisla blickte Runa fragend an - die schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass er von einem Hund spricht, sondern vom Wolf Fenrir«, erklärte sie. »Fenrir wiederum war ein Kind Odins und so wild, dass man ihn zunächst nicht an die Kette legen konnte, ohne dass diese sogleich wieder zerriss. Einzig die Zwerge vermochten ein besonderes Band zu weben, das ihn im Zaum hielt. Als sie versuchten, ihn einzufangen, blickte Fenrir sie scheinbar treuherzig an, schwante ihm doch Böses und hoffte er, die Zwerge mit vermeintlicher Willfährigkeit milde stimmen zu können. Aber die Zwerge ließen sich nicht täuschen und banden Fenrir fest.« Runa blickte voller Argwohn auf Thure. »Vielleicht sollten wir ihn auch festbinden.«
    Sie taten es nicht, und am Abend, als sie zurück ins Haus gekehrt waren, war Runa nicht länger misstrauisch, sondern nachdenklich.
    »Ich frage mich, an welche Geschichte ich mich erinnern würde, wenn ich nicht mehr wüsste, wer ich bin«, murmelte sie.
    Sie schien lange darüber nachzusinnen - und Gisla tat es auch. Sie fragte sich nicht nur, welche der Erzählungen ihrer Kindheit Bestand haben würde, sondern auch, ob zu wissen, wer man war, das Leben leichter oder schwerer machte.
    »Die Zwerge stellten nicht nur die Kette von Fenrir her, sondern auch alle Waffen der Götter«, fuhr Runa fort, »doch das Zauberband war etwas ganz Besonderes. Es bestand aus dem Miauen einer Katze, dem Haar einer Frau, den Wurzeln eines Berges, den Muskeln eines Bären, dem Atem eines Fisches, dem Speichel eines Vogels.«
    Ihre Züge wurden plötzlich ganz weich, ihre Augen glänzten, ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und Gisla erwiderte es. Vielleicht dachte Runa an ihre Großmutter, von der sie manchmal sprach, vielleicht war die Wärme, die sie ausstrahlte, aber auch ein Zeichen dafür, dass es richtig war, Thure nicht sterben zu lassen.
    Am nächsten Tag setzte heftiger Regen ein. Er ließ die restlichen Eisschollen auf dem Wasser schmelzen, aber fühlte sich eisig an, als er gegen ihre Gesichter peitschte.
    »Lass ihn doch in einer der Vorratskammern unterschlüpfen«, schlug Gisla zögerlich vor.
    Runa blickte sie skeptisch an. Wegen des Regens ließ sie den Schiffbau ruhen. »Das ist zu gefährlich«, erklärte sie. »Morgen fällt ihm vielleicht mehr ein als nur eine Geschichte aus der Kindheit. Bleib nie mit ihm allein!«
    »Ich will nicht mit ihm allein sein. Ich will ihn nur in die Vorratskammer lassen.«
    Der Regen trommelte laut auf das Dach. Runa zögerte lange, aber schließlich nickte sie widerstrebend. »Meinetwegen. Aber er schläft nur des Nachts in der Kammer - tagsüber bleibt er am Strand.«
    Und so geschah es.
    Gisla sah Runa an, dass sie sich vor Thure fürchtete, und tat es auch selbst. Aber diese Angst höhlte nie

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