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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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kleine, leichtgläubige Idun ...«
    Warum nannte er sie bei diesem Namen?
    Noch schwebte sie, dann erstarrte sie. Ihr Körper, federleicht, gefror zu Stein, fiel zu Boden, diesmal nicht in abgründige Tiefe, sondern auf Thures Leib, und der war nicht warm und weich, sondern hart und brutal. Er hatte sie auf seinen Schoß gezogen, zog an ihren Haaren, betastete sie überall. Tausend Hände schien er zu haben - oder vielmehr keine Hände, sondern kratzende, haarige Spinnenbeine.
    »Ja, ich erzähle dir von der Zerstörung der Welt«, begann er raunend. »Ich erzähle dir von der Ragnarök, der Götterdämmerung. Mit drei Wintern begann sie, ohne einen Sommer dazwischen, mit Überschwemmungen und mit Erdbeben. Der Himmel verdunkelte sich, und Vulkane spien Feuer. Die Erde bebte, und der Mond und die Sonne wurden von Wölfen gefressen. Fenrir zerriss die Ketten, die ihn hielten, und Midgard, die Schlange, die sich bis dahin in ihrem Schwanz verbissen und somit das Gleichgewicht des Lebens gewahrt hatte, erhob sich aus dem Ozean.«
    Gisla hörte seine Worte nicht nur, sie fühlte sie auch. Sie fühlte die Kälte der Winter, fühlte die Zähne der Wölfe, die an ihr nagten, fühlte die Flutwellen über sich hereinbrechen, fühlte die Erde beben, fühlte Fenrir an ihrem Ohr keuchen und fühlte, wie sich die Schlange um ihren Leib wand wie einstmals um die Erde. Dann erst erfasste sie, wer sich da um ihren Leib wand. Es war nicht die Schlange, es war Thure.
    »Lass mich ...«
    Er hatte vielleicht vergessen, wer er war, aber nicht, wie man lachte. Jetzt lachte er laut und durchdringend.
    »Als die Ragnarök begann, befreite sich Loki aus der Höhle, wo er nach Baldurs Tod gefangen gehalten wurde. Nicht länger tropfte Gift auf sein Haupt, nicht länger war er den Göttern unterlegen. Er erhob sich, er freute sich auf den letzten großen Kampf, und er war stärker als je zuvor.«
    Runa glaubte, ihre Augen tragen sie, als sie den Mann erkannte, der da vor ihr stand. Mit lautlosen Schritten musste er sich angeschlichen haben. Nun, da sich ihre Blicke trafen, hielt er inne, stand erst starr da wie ein Baum und duckte sich dann einem Raubtier gleich, das zum Sprung ansetzt. Es war kein anderer als Taurin.
    Unwillkürlich ging Runa in die Hocke, senkte leicht den Kopf. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Da war nichts, kein Vogelgezwitscher, kein Meeresrauschen, kein Wind im Geäst. Da war kein Platz für Fragen. Warum lebt er noch, warum ist er hier, wie hat er mich gefunden? Da war auch kein Entsetzen, kein Erstaunen, kein Hadern, weil sie von ihm überrascht worden war.
    Da war nur ein schlichter Gedanke: Er will mich töten.
    Er trug ein Schwert, Runa ihr Messer. Er war stark, aber ausgezehrt und erschöpft - sie war nicht ganz so stark, aber sie hatte den ganzen Winter im Freien gearbeitet und im Warmen geschlafen.
    Sein Blick war starr wie der eines Toten. Sie hingegen fühlte sich so lebendig wie lange nicht. Ihr Herz dröhnte in der Brust.
    Ja, er wollte sie töten, und er konnte sie töten. Aber nur, wenn sie einen Fehler machte.
    »Du weißt wieder, wer du bist?«, stammelte Gisla. »Du kannst dich an alles erinnern?«
    Sie konnte wieder sprechen, aber aufsetzen konnte sie sich nicht, denn er lag schwer auf ihr. Ihr Kopf fiel zur Seite, ihr Mund schmeckte Sand und Asche.
    »Ich habe euch nicht belogen«, erwiderte Thure. »Ich hatte wirklich vergessen, wer ich bin. Du jedoch hast mir meine Erinnerung zurückgebracht. Du und niemand sonst.«
    »Aber ...«
    Ihre Zunge war so groß, ihre Lider so schwer, die Abscheu vor ihm so heftig. Wie hatte sie ihn je ansehen können, ohne vor Furcht und Hass zu vergehen?
    »Du hast gesagt, du wolltest gütig sein«, fuhr er fort. Sein Hohn erkaltete, sein Blick wurde leer. »Und plötzlich wusste ich wieder, dass mein ganzes Leben lang niemand je gütig zu mir gewesen ist. Nicht meine Mutter, denn die verreckte, als sie mich gebar. Nicht die Zweitfrau meines Vaters, denn die warf das Kind der Rivalin ins Wasser, um es zu ersäufen. Nicht mein Vater, der mich aus dem Wasser zog, um mich fortan zu prügeln. Nicht die Krieger des großen Königs Alfred, in deren Hände ich fiel, als ich Rollo nach England begleitete. Sie wollten an mir erproben, ob ein Mensch ohne Nase, Augen und Ohren leben kann. Ehe sie mir all das abschnitten, griff ihr König ein, aber sie hatten mir genügend Wunden zugefügt, auf dass für immer Narben davon bleiben würden. Meinetwegen hätte der König nicht

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