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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Schiff taugt nichts.
    Deine Heimat ist verloren.
    Runa schüttelte den Kopf. Ja, sie brauchten ein Tier, sie brauchten Milch. Sie musste am kommenden Morgen aufbrechen und nach Menschen suchen, um Pelze und getrockneten Fisch gegen eine Ziege einzutauschen. Undenkbar schien ihr plötzlich ein Weiterleben ohne Skyr.
    Allerdings: Sie wollte an diesem Ort ja nicht weiterleben, wollte ihr Schiff fertig bauen und absegeln.
    Dein Schiff taugt nichts.
    Deine Großmutter ist tot.
    Deine Heimat ist verloren.
    Zorn und Enttäuschung stiegen wieder in ihr hoch - und zugleich kehrte der Hunger zurück. Und noch etwas anderes kehrte zurück - Furcht. Ein Geräusch hatte diese Furcht ausgelöst, das Geräusch von Schritten.
    Runa hob den Kopf, trat aus der Vorratskammer und hoffte, dass Gisla zurückgekehrt war. Aber nicht Gisla stand da, sondern ein ganz anderer.
    Das Feuer machte warm, aber es machte nicht satt. Je länger Gisla davorhockte, desto hungriger wurde sie. Aufstehen wollte sie jedoch auch nicht, wollte bleiben, am Strand liegen, auf diesem Fleckchen Welt, das nur ihr gehörte, nicht Runa ...
    Vielleicht gehörte es auch ein bisschen Thure, der aufgestanden war und sich an etwas zu schaffen machte. Erst jetzt sah sie, dass es ein Becher war, den er in seinen Händen hielt - einer jener, die Runa in den langen Winternächten geschnitzt hatte. Wann hatte er ihn gestohlen?
    Gestohlen war allerdings ein böses Wort; gewiss hatte er sich ihn nur ausgeliehen, und nun reichte er ihn ihr.
    »Trink, dann wird dir wärmer«, forderte er.
    Sie setzte sich auf. Eine neue Rauchwolke nebelte sie ein und ließ sie husten. Sie griff nach dem Becher und trank das Gesöff, das glühend die Kehle hinablief. »Was ist das?«, fragte sie.
    Er deutete auf den Beutel auf seiner Brust. »Den trage ich bei mir, ich weiß nicht mehr, warum. Die Körner, die sich darin befinden, kann man essen, und sie schenken schöne Träume.«
    »Hast du wieder etwas geträumt?«, fragte sie. »Weißt du jetzt, wer du bist?«
    Sein Gesicht verschwamm im Rauch. Erst schien es größer zu werden, dann schmaler. Sie sah die Narben nicht mehr, nur weiße glatte Haut. Und sie sah, dass seine Augen funkelten.
    »Wie es scheint, träume ich nicht davon, wer ich bin. Ich träume nur Geschichten, die ich einmal gehört habe.«
    Gisla trank noch mehr, der Becher leerte sich. Ihre Zunge schien sich zusammenzuziehen, so bitter war das Gesöff, doch die Wärme, die sich in ihrer Kehle und in ihrem Magen ausbreitete, war eine Wohltat. Kurz schien sich ihr Leib zu verkrampfen, dann löste sich der Knoten. Die Wange schmerzte nicht mehr.
    »Und von welchen Geschichten hast du diesmal geträumt?«, fragte Gisla nuschelnd. Die Zunge stieß beim Reden gegen die Zähne.
    Thure setzte sich zu ihr und wollte sich an sie lehnen. Noch war sie klar bei Sinnen, um es zu verhindern. Sie wich von ihm zurück und ließ sich stattdessen auf den Sand fallen, wähnte, darin zu versinken, immer tiefer, als bedecke der Sand nicht festen Boden, sondern ein Loch. Sie presste die Augen zusammen, öffnete sie wieder, sah sein Gesicht nicht mehr, weder breit noch schmal, weder mit Narben noch ohne, sah nur Grau, und dieses Grau begann sich zu drehen.
    »Ja, ich habe wieder von einer Geschichte geträumt«, murmelte Thure. »Die Geschichte der Idun, die den Baum der ewigen Jugend behütete, und die Loki aus der Welt der Götter fortgelockt hat, um sie einem Riesen zu übergeben. Wie dumm sie war, die kleine Idun, wie leichtgläubig und weltfremd. Hat sie nicht geahnt, dass man Loki nicht trauen darf?«
    Wieder überkam Gisla die Ahnung von Gefahr, und dieses Mal rieselte sie nicht heiß, sondern kalt über ihren Rücken. Erst fiel sie wieder, tiefer, immer tiefer, dann, als sie glaubte, sie hätte den Grund des Lochs erreicht, wurde ihr Körper leicht. Jetzt schwebte sie, schwebte Thure entgegen; ganz nah war plötzlich sein Gesicht, und sein Gesicht war wieder hässlich.
    Sie schrie auf, wollte es zumindest, doch über ihre Lippen kam kein Laut, sie konnte ihre Zunge nicht bewegen.
    »Ich glaube, ich werde dir eine andere Geschichte erzählen«, fuhr Thure tief über sie gebeugt fort. »Meine liebste Geschichte. Die Geschichte von der Zerstörung der Welt. Ja, dies ist ihre Bestimmung - sie wurde im Chaos geboren und wird darin versinken. Sie wird neu erstehen und wieder versinken. Unser Geschick dreht sich im Kreis, und niemand kann ihm entkommen. Du kannst auch mir nicht entkommen ... du dumme,

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