Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Hand zu heben, ihre schwielige, vernarbte Hand, die Hand, die gewiss so hässlich war wie Thures Gesicht, und mit jener Hand schlug sie Gisla ins Gesicht. Das Klatschen klang schmerzhaft in ihren Ohren - aber noch schmerzhafter musste es sein, diesen Schlag zu fühlen.
Gisla blieb stumm. Sie taumelte, prallte gegen das Schiff, das hässliche Schiff.
Dein Schiff taugt nichts.
Deine Großmutter ist tot.
Deine Heimat ist verloren.
Runa musste nicht länger gegen Tränen ankämpfen, auch die von Gisla versiegten.
»Es tut mir leid«, presste Runa hervor und starrte fassungslos auf ihre Hand, die nicht zu ihrem Körper zu gehören schien.
Gisla drehte sich um und lief davon.
Nichts hatte je so wehgetan, nicht die Kälte, nicht der Hunger, nicht Adariks Griff. Beggas Verrat hatte zwar auch geschmerzt, aber Begga hatte aus Schwäche gehandelt. An Runa schien nichts schwach - im Gegenteil: Ihr Schlag war so heftig gewesen, Gislas Wange brannte wie Feuer. Es war das Einzige, was brannte, ansonsten war alles kalt in ihr. Es war zu kalt zu weinen und zu klagen, zu kalt auch, um weiterzulaufen. Sie hatte den Strand erreicht, ließ sich auf den Boden fallen, versenkte ihren Kopf im Sand. Sie schluckte die rauen Körner, hustete, richtete sich wieder auf. Dann fiel ein Schatten auf sie.
Wie von Runa gefordert schlief Thure des Nachts in der Vorratskammer, am Tag kehrte er an den Strand zurück und starrte aufs Meer. Vielleicht hoffte er, dass die Wellen seine Erinnerungen zurückspülten. Jetzt stand er plötzlich vor ihr. Zum ersten Mal war sie ganz allein mit ihm.
Thure ließ sich neben sie fallen und rückte nah an sie heran. Nie hatte sie seinen Körper gefühlt, nun war dieser Körper - ob er nun einem bösen Menschen oder einem guten gehörte, einem, der Erinnerungen hatte oder keine, das Einzige auf der Welt, was wärmte.
»Warum weinst du, kleine Gisla?«
Sie spürte Wärme, aber sie spürte auch ... Gefahr. Furcht rieselte über ihre Haut wie spitze Nadeln - erträglicher jedoch als der Schmerz.
Sie gab keine Antwort.
»Was machst du hier?«, fragte er nun.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich will Runa nicht sehen.«
»Du zitterst ja«, stellte er fest. »Dann muss ich wohl ein Feuer machen.«
Sie zitterte tatsächlich. Weil die Gefahr wuchs, oder weil Leben in ihren Körper, der sich eben noch wie tot angefühlt hatte, zurückkehrte? Gisla wusste es nicht.
Mit dem Leben kamen neue Tränen und verschleierten ihren Blick. Sie sah verschwommen - nun nicht nur ob der Tränen, sondern ob des Rauchs, der in die Luft stieg.
Sie hatte keine Ahnung, wie es Thure gelungen war, ein Feuer zu entfachen; das Treibholz war eigentlich zu feucht. Aber unter dem dunklen Rauch gloste es, aus dem Glosen wurde ein zuckendes Flämmchen, und aus dem Flämmchen ein rotes kräftiges Feuermeer.
Gisla rückte ganz dicht an das Feuer heran, während Thure Steine darum herumstapelte, damit der Wind nicht zu sehr an ihm zerrte. Sie hustete wegen des Rauchs - aber sie zitterte nicht mehr, und sie weinte auch nicht länger.
Runa kämpfte mit sich, ob sie Gisla folgen sollte. Zorn und Enttäuschung hatten sich gelegt, auch das schlechte Gewissen und die Scham. Nur das Unbehagen war geblieben. Es war nicht gut, wenn Gisla ganz allein am Strand war, oder vielmehr: wenn Gisla zusammen mit Thure, der irgendwo da draußen war, allein blieb.
Aber dann sagte sie sich, dass Gisla kein Kind war und sie nicht ihre Mutter, und wenn sie sich doch wie ein Kind verhielt, dann musste sie allein mit ihrem Eigensinn fertig werden.
Gegen Abend hin wuchs Runas Unruhe - vor allem aber der Hunger. Sie war zurück ins Haus gegangen, trat nun vors erloschene Herdfeuer und sagte sich trotzig, dass sie Gisla nicht brauchte, um sich etwas zu essen zu bereiten. In der Vorratskammer fand sie kein Fleisch mehr, aber Fisch, der zuerst gründlich geputzt, dann ausgenommen, schließlich flach geklopft und an einem Holzgestell aufgehängt worden war. So wurde er getrocknet - wie die Hagebutten, die in einem Krug danebenstanden. Runa starrte auf den Fisch und auf die Hagebutten, und der Hunger verging ihr. Auf keins von beidem hatte sie Lust, und einmal mehr dachte sie, dass sie eine Kuh bräuchten oder zumindest eine Ziege - in jedem Fall ein Tier, das Milch gab. Dann könnten sie Käse machen, vor allem aber Skyr - jene Dickmilch, die auch ihre Großmutter häufig zubereitet hatte.
Sie leckte sich über die rauen Lippen.
Deine Großmutter ist tot.
Dein
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