Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
eingreifen müssen. Vielleicht lebt es sich besser, wenn man nicht hört, sieht oder riecht. Ja, ich kann auf Ohren, Augen und Nase verzichten - und auf die Güte verzichten, das kann ich auch. Denn nie ist jemand gütig zu mir gewesen, und dennoch lebe ich. Ich habe so viele Narben, und dennoch lebe ich.«
Er schrie, wie sie ihn noch nie hatte schreien hören, und ganz gleich, wie viel Gleichgültigkeit und Verachtung seine Worte verhießen - das Schreien klang trostlos, und seine Augen waren nass, und sie begriff, dass nicht jeder böse Mensch gut wird, aber jeder böse Mensch einst verzweifelt war.
Dann verstummte er. Seine Hände krallten sich um ihre Schultern. Sie konnte sich nicht wehren, nur stammeln: »Lass mich ... bitte, lass mich gehen.«
»Nicht nur, dass man die Güte nicht braucht. Dumm ist es zudem, sie zu zeigen«, zischte er mit blitzenden Augen. »Denn am Anfang der Welt stand nicht die Güte, und am Ende wird sie auch nicht stehen. Die Welt kam aus dem Chaos und wird im Chaos untergehen.«
Dass er sie gefunden hatte, kam Taurin unwirklich vor. Dass er starr stehen blieb, auch. So lange hatte er kaum Rast gemacht, so lange hatte er sich getrieben gefühlt - und gefangen wie nie. Er hatte sich nicht frei fühlen können, ehe er die Frauen nicht fand. Doch das Land war groß, und die Menschen, die darin lebten, hatten Angst vor Fremden. Wen immer er nach den beiden fragte, hüllte sich in ängstliches Schweigen. Als der Winter vorüber war, zweifelte er daran, dass sie überhaupt noch lebten.
Daran aufzugeben dachte er dennoch nicht. Er hatte an seinem Ziel festgehalten. Er kämmte sich nicht mehr und schnitt seinen Bart nicht. Er wusch sich nicht mehr, nähte nicht seine zerrissenen Beinkleider. Viele Stunden verbrachte er im Wald, und einmal spiegelte er sich in einer Pfütze zwischen den Bäumen. Er erkannte sich selbst nicht wieder und zweifelte kurz, ob er überhaupt noch ein Mensch war. Allerdings glich er auch keinem Tier, eher einem Einsiedler, dessen Verwahrlosung bewies, wie wenige irdische Dinge ihn zu fesseln vermochten. Ein Einsiedler suchte die Einsamkeit, um Gott zu preisen, er suchte die Frauen, um Rache zu nehmen - und Gott war anscheinend auch auf seiner Seite. Wer sonst hätte ihm eingegeben, an der Küste entlangzugehen?
Leer war das Land. Wer immer hier einst gelebt hatte, war aus Angst vor den Anstürmen der Nordmänner geflohen. Die Frauen hingegen waren nicht geflohen. Sie hatten den Winter überlebt, sie hatten sich an diesem Ort niedergelassen.
Taurin stand steif, aber das Herz schien ihm in der Brust zu zerspringen. Der Augenblick war so machtvoll. Gleich würde er sich wieder bewegen. Gleich würde er kämpfen. Aber kurz stand die Welt still und er auch. Nur Erinnerungen regten sich - wie immer in der Stille.
Es stank ... wie es stank! Im Palatium des Grafen wurden Verwundete behandelt. Seuchen brachen aus, frisches Wasser wurde knapp. Die Bewohner vom Umland flohen auf die Insel. Und wieder brannte es. Manche Schreie waren so laut, dass man sie nicht hörte. Meine Schöne ging zugrunde ... jeden Tag ein bisschen mehr.
Seine Augen verengten sich, er hob sein Schwert, die Welt stand nicht länger still. Er würde kämpfen, er würde töten, er würde seine Schöne rächen.
Taurins Augen waren starr wie die eines Toten auf sie gerichtet. Doch dann flackerte plötzlich ein irrer Glanz auf. Oder ist es weniger Irrsinn, dachte Runa, als vielmehr Trauer?
Sie wusste es nicht, wusste auch nicht, was er in ihren Augen sah. Sie atmete noch einmal tief ein. Sobald sie den Atem entweichen ließ, würde der Kampf beginnen, ohne dass sie auch nur ein Wort gewechselt hatten, ohne dass er erklären musste, dass er sie töten wollte, und sie, dass sie sich wehren würde.
Ihre Brust schien zu bersten, desgleichen ihr Kopf. Sie sah nicht länger in seine Augen, sie sah nur mehr Rot. Das Rot des Blutes.
Thures Worte brannten wie Feuer. Oder nein, nicht wie Feuer, wie Gift ... das Gift der Schlange, die sich um ihren Leib wand, die ihre Zähne in ihre Haut schlug. Oder vielleicht waren es keine Zähne, die sie verletzten, vielleicht nur seine Narben, die ihre Haut aufschürften, zarte, feine Haut. Ja, vielleicht war dies seine beste und grausamste Waffe: seine Narben.
»Lass mich!«, klagte sie. »Nicht!«
Kurz löste er sich von ihr, kurz war da keine Schlange mehr. An ihrer statt hockte nun der Fenrirswolf auf ihrer Brust, der, wie Thure zu erzählen fortfuhr, in der Ragnarök
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