Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
schäbiges Los nicht ausreichend beklagte und bereute. Doch dann stieß er noch mehr wirre, zornige Worte aus, und sie begriff, dass er die Sittsamkeit vermisste, ihre Schultern zu bedecken. Es war warm geworden, und sie trug die Träger des neuen Kleides auf der nackten Haut - ein Anblick, der für Taurin offenbar schwer erträglich war.
Runa aber funkelte ihn an. »Halt dein Maul!«, spie sie aus.
Anstatt sie zu beschimpfen, senkte Taurin den Blick, und sein Ärger erstarb.
In der Nacht hatte er erneut finstere Träume. Gisla lag im Dunkeln, lauschte und fragte sich, ob sie wohl auch so stöhnte und schluchzte und schrie, wenn sie schlief. In den Wochen, die folgten, schienen seine Träume immer schlimmer zu werden. Er zerrte an den Fesseln und brachte den Holzbalken zum Zittern, sodass Dach und Wände knarrten. Manchmal keuchte er nur, manchmal weinte er, manchmal tobte er im Schlaf. Gisla fragte sich, ob nicht nur in ihr, sondern auch in ihm ein Dämon hockte.
Eines Nachts schrie er so laut, dass Runa aufstand und ihn weckte. Sie streichelte über sein Gesicht, und Taurin stieß sie nicht fort, sondern ließ es, schlaftrunken und in dunklen Welten gefangen, zu.
Gisla verstand nicht, woher Runa den Mut nahm, ihm so nahe zu kommen und ihn zu berühren, aber sie war dankbar, dass ihre Gefährtin diese Macht über Taurin hatte. Ganz offenkundig beschwichtigte sie den Dämon - den in ihm ... und den in ihr.
Runa kümmerte sich mehr und mehr um Gisla. Sie kochte ihr häufig eine kräftige Brühe, und diese Brühe schien nicht nur Gisla gutzutun, sondern auch dem Kind. Gisla bemühte sich, ihren runder und praller werdenden Bauch nicht zu berühren, doch dass das Kind sich eines Tages bewegte, ja Tag für Tag heftiger strampelte, konnte sie nicht missachten. Sie versteifte sich dann, presste die Augen zusammen und floh in Erinnerungen an Laon, als ihre Mutter und Begga sie beim kleinsten Anzeichen einer Krankheit ins Bett geschickt und mit einem Kohlebecken für Wärme gesorgt hatten, ungeachtet dessen, dass sie bereits unter der viel zu dicken Kleidung schwitzte. Sie hatte sich nie gewehrt, als hätte sie damals schon geahnt, dass sie eines Tages sehr viel frieren würde.
Die Zeit des Frierens war jetzt vorbei. Der Sommer senkte sich drückend heiß über das Land und mit ihm die Langeweile. Es war anstrengend, Tag für Tag zu liegen, die Schlafstatt war so klein und eng. Mehr zufällig denn willentlich begann Gisla eines Tages zu summen, erst zaghaft, dann laut genug, um zu hören, dass sie es nicht verlernt hatte. Ein warmer Ton entrang sich ihrer Kehle, hell wie das Gezwitscher der Vögel, die jetzt über den Himmel schossen oder auf Bäumen hockten und sich nicht darum scherten, dass irgendwann wieder der Winter kam.
Und Gisla fühlte, wie der Gesang sie belebte.
Sie setzte sich auf, sah, dass Runa nach draußen gegangen und sie mit Taurin allein in der Hütte war. Sie achtete nicht auf ihn - versuchte auf gar nichts zu achten. In der Hütte war es finster und heiß, aber die Töne aus ihrem Mund waren licht und leicht; sie schwebten bis zur Decke, schwebten durch das Dach, schwebten himmelwärts. Erst sang sie nur eine Melodie, dann formten ihre Lippen die Worte eines Psalms. Sie kamen aus der Tiefe des Gedächtnisses, wo ein Schatz an Gebeten wartete, wiederentdeckt zu werden, Gebete, die Gott priesen, aber auch Gebete, mit denen die gebeutelten Menschen ihre Klagen vortrugen. Ja, sie klagte, klagte aus ganzer Seele, aber die Klage war keine Last. Der Psalm schwebte höher und höher, er war befreit von dieser Welt, und kurz, ganz kurz, war sie es auch.
»Deus, Deus meus, quare me dereliquisti? Longe a salute mea verba rugitus mei. Deus meus, clamo per diem, et non exaudis, et nocte, et non est requies mihi. Tu autem sanctus es, qui habitas in laudibus Israel.«
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinen Schreien, den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe. Aber du bist heilig, du thronst über dem Lobpreis Israels.
Inmitten des leichten, hellen, warmen Tons erklang ein rauer.
»Hör auf!«
Gisla blickte auf, und Taurin starrte sie an, sein Gesicht verschwitzt und hochrot wie ihres. Er war magerer als früher, obwohl er genügend zu essen bekam. Während ihr Leib stetig wuchs, schien seiner zu schrumpfen. Kurz drängte alles in ihr, ihren Blick zu senken, aber sie fühlte sich sicher genug,
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