Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
mittlerweile sehr alt sein musste. Nach allem, was sie von ihm wusste, lebte er schon sechs Jahrzehnte auf dieser Welt - zwei Jahrzehnte mehr als sie.
Noch einen Schritt ging sie auf ihn zu, stolperte fast über einen Leichnam. Warum sie hier lagen, begriff sie weniger als zuvor. Es konnte nicht sein Werk gewesen sein, denn er war Franke wie sie, doch wenn andere sie gemeuchelt hatten, warum lebte ausgerechnet er noch?
Es war nicht die rechte Zeit, darüber nachzudenken.
»Gisla«, sagte er.
»Taurin«, sagte sie.
Die Namen klangen wie eine Kriegserklärung.
Er wollte immer noch Rache.
Sie wollte immer noch leben.
Und vor allem wollte sie, dass Arvid lebte.
XI.
N ORDMÄNNERLAND F RÜHLING /S OMMER /H ERBST 912
Kurz nachdem Gisla wusste, dass sie ein Kind bekam, zog sich der Frühling, der so machtvoll gekommen war, hinter einem grauen kalten Himmel zurück. Alles, was frisch und bunt erblüht war, zitterte im Wind. Die Welt, nicht länger reich an Farben, sondern aschfahl, schien getäuscht worden zu sein von der trügerischen Sonne wie Gisla von Thure. Das Frieren nach den ersten warmen Tagen war schwerer zu ertragen als im an Licht und Hoffnung ärmeren Winter, doch Gisla sah es als Strafe und klagte nicht.
Irgendwann kehrte der Frühling wieder, langsamer nun, aber freundlich; die Wiesen schienen zu lächeln, das Meer, von glitzernden Schaumkronen bedeckt, rauschte nicht mehr gefahrvoll. Vögel tobten munter am Himmel, als wollten sie ausloten, wie fest dessen Zelt gespannt war. Gislas Welt blieb jedoch fahl und kalt, und sie fühlte sich wie tot. Die graue Mauer zwischen ihr und der Welt war keine aus Verzagtheit und Entsetzen gebaute, sondern aus Gleichgültigkeit.
Welches Urteil würde der Vater wohl über sie sprechen?
Ganz nüchtern befand sie, dass er sie wohl lieber tot sähe als mit dem Bastard eines Nordmannes im Leib, und dachte, dass dies nicht gerecht wäre. Schließlich wollte ihr Vater sie mit einem Nordmann verheiraten und hatte in Kauf genommen, dass sie dann auch seine Söhne gebären müsste, und selbst wenn diese, mit dem Segen der Kirche bedacht, keine Bastarde wären - Kinder eines Nordmannes wären sie allemal.
Sie dachte nicht nur an ihren Vater, sondern auch an ihre Mutter, kam bei ihr aber nicht recht zum Schluss, was sie für das schlimmste Unglück halten würde: dass die Tochter dies alles erlitt und dass der Plan nicht aufgegangen war, sie zu schützen, oder dass am Ende, grässlich verzerrt, jenes Geschick stand, das der Vater ihr auferlegt hatte - die Frau eines Heiden zu werden -, und dass sein Wille sich letztlich als stärker erwies. Fredegard konnte nur geschehen lassen, desgleichen, wie sie stets hinzunehmen hatte, seine Konkubine zu bleiben.
Popa hatte sich gegen gleiches Schicksal gewehrt, und ausgerechnet Fredegard müsste sie von allen am besten verstehen, obwohl dieses Aufbegehren und Trotzen, zu dem sie sich selbst niemals durchgerungen hatte, die eigene Tochter erst ins Unheil geritten hatte.
Ob Aegidia bereits tot war? Ob Popa ihr Ziel erreicht hatte? Und ob Rollo schon getauft war?
Keine dieser Fragen konnte sie erschüttern. Nichts änderte etwas daran, dass sie Thures Kind trug, dass dieses Kind nie einen Vater haben würde, desgleichen sie keinen mehr hatte - sie hatte nur mehr Runa, und die gab sich verschlossen und wortkarg wie sie. Stille lastete über ihnen allen: Die Frauen sprachen nicht miteinander, und Taurin sprach nicht mit den Frauen, er verfiel in Lethargie. Nur manchmal bleckte er die Zähne - vielleicht ein höhnisches Lächeln, vielleicht ein Zeichen, dass er sie am liebsten zerfleischen würde.
Am Anfang war die Stille noch erträglich. Gisla tat nichts anderes, als einfach dazuhocken, nach einiger Zeit wurden Stille und Nichtstun jedoch immer erdrückender.
Eines Tages wurde die Mauer aus Gleichgültigkeit, die sie um sich gebaut hatte, erschüttert - ein Fahrender Händler kam vorbei. Der Schrecken, in den seine Schritte und das Knirschen seiner Wagenräder Gisla versetzten, war altvertraut und lebendig. Sie klammerte sich an Runa und blickte sie angstvoll an, doch die schüttelte sie ab und trat dem Mann unerschrocken entgegen.
»Was hast du anzubieten?«, fragte sie.
Er schien erstaunt, in der Einöde auf ein Dorf zu treffen, und noch erstaunter, dass das Dorf aus so vielen Häusern bestand, aber nur so wenige Menschen beherbergte.
»Wo sind die anderen?«, fragte er.
Runa gab keine Antwort, und er wiederholte seine Frage
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