Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
seinem neuen Leben in Lutetia ... im Kloster des heiligen Germanus, hatten Frauen keinen Platz gehabt. Und schon gar keine Frauen aus dem Norden. Genau betrachtet auch keine Männer aus dem Norden. Nicht bis zu dem Tag, da sie über seine geliebte Stadt hergefallen waren.
Bevor sie kamen, hatte er ein Jahr in Saint-Germain gelebt, und das war lange genug, um sich an den Tagesablauf zu gewöhnen und sich als Abbos bester Schüler herauszustellen. Er konnte alle Psalmen memorieren, er sprach und schrieb Latein, gerade lernte er, auch Griechisch zu schreiben.
Es war Herbst. Es war kalt. Sie kamen frühmorgens.
Schon seit Tagen, schon seit Wochen war über die drohende Gefahr getuschelt worden, aber zugleich gebetet und gehofft, dass diese Prüfung an ihnen vorübergehen möge. Doch sie ging nicht vorüber, sie blieb - und das über Monate. Die Flotte wurde von einem gewissen Siegfried angeführt, und diese Flotte suchte im September Rouen heim und stand im Oktober vor Pontoise. Nachrichten drangen bis nach Paris, wo hektisch versucht wurde, die Befestigung der Mauer zu erneuern. Im November war man mit der Mauer fertig, und kurz darauf waren die Barbaren da.
Sein Atem ging keuchend, während er immer heftiger an seinen Fesseln zerrte. Wenn er damit nicht aufhörte, würden seine Hände absterben, vielleicht gar abfallen, aber es war ihm gleich, er wollte seine Hände doch gar nicht mehr. Diese Hände hatte Gott geschaffen, damit sie schreiben sollten, nicht, um Waffen zu halten oder um eine Frau zu erwürgen. Genau betrachtet hatte er Gisla nicht gewürgt, es nur versucht, und bei Runa konnte er es nicht einmal versuchen. Erneut strich sie ihm über sein Gesicht, und die Berührung fühlte sich an wie ein Schlag.
»Geh!«, schrie er. »Geh!«
Sie wich nicht.
»Du, ja, du gehörst zu jener Brut, die die Hölle selbst ausgespuckt hat.«
Sie blickte ihn nur fragend an.
Sein Hals schmerzte, er fühlte sich zu schwach, um zu schreien. Nur reden konnte er, weitererzählen.
»Sie kamen im November. Die Schiffe ankerten am Uferstreifen inmitten eines Meeres aus Schilf. Noch wollten sie nicht in die Stadt, verlangten lediglich freie Durchfahrt, um jenseits von Paris zu morden und zu stehlen. Der Graf verweigerte sie ihnen. Und da begannen sie, die Stadt zu belagern.«
Er schloss die Augen. Die Bilder verfolgten ihn seitdem.
Brennende Pfeile ... umkämpfte Brückenköpfe ... Seuchen in der Stadt ... Hunger ... Rammböcke, die gegen Mauern donnerten ... heißes Pech, das man auf Angreifer kippte.
»Fahr fort! Was ist dir geschehen?«
Runas Stimme war leise und dennoch mächtig genug, um diese Bilder verblassen zu lassen.
Andere stiegen in ihm hoch.
»Als die Normannen näher kamen«, fuhr er fort, »rettete man die Gebeine des heiligen Germanus in die Stadt. Man trug sie die Mauerumgürtung entlang, betete zu ihm und erflehte seinen Schutz, und der heilige Germanus beschützte uns auch - zumindest ein wenig. Man erzählte sich manches Wunder, das er gewirkt hatte, um die Eindringlinge zurückzuschlagen. So gab es einen Brunnen, aus dem die Heiden Wasser schöpften, doch kaum benetzte einer seine Kehle damit, wurde aus dem Wasser Blut. Ja, Sankt Germanus hat das Wasser in Blut verwandelt, so wie Jesus bei der Hochzeit von Kanaan Wasser in Wein. Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Unterschied überhaupt schmeckten, ob für Barbaren wie sie das Blut nicht sogar köstlicher war als Wein.«
Er brach ab.
Verwirrung hatte sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet, sie schien das Gerede von Wein und Wasser und Blut nicht recht zu verstehen. Doch sie fragte nicht nach.
»Wie bist du ... in ihre Hände geraten?«
Er schluchzte trocken auf und krümmte sich.
Alle anderen Mönche hatten damals solche Angst gehabt: Dass Lutetia fallen würde und sie selbst erschlagen, erhängt und erstochen. Oder dass sie versklavt werden würden und fortan für die Heiden schuften müssten.
Aber er hatte keine Angst gehabt. Lutetia - das war doch eine der schönsten und größten Städte der Christenheit, hatte sein Vater gesagt. Sie würde allen Barbaren dieser Welt, mochten sie noch so furchteinflößend sein, standhalten.
Die Mauer erwies sich tatsächlich als festes Bollwerk und die Tore als guter Schutz. Nur manchmal wurden die Tore geöffnet - wenn Graf Odo mit einer kleinen Truppe aus der Stadt ritt, ein paar Nordmänner erschlug und mit ihren abgeschlagenen Köpfen wiederkehrte. Jedes Mal fürchtete man um sein Leben, doch nicht Graf
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