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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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nicht. Der Gesang war vertraut, auf andere Weise als die Töne des Krieges. Der Krieg löschte alle Sehnsucht aus, der Gesang fachte sie an. Der Wunsch nach Rache hatte seinen Kummer, seinen Schmerz stets im Zaum halten können, die hellen Töne aber ließen jede Beherrschung bersten, jeden Knoten zerplatzen, jeden festen Boden unter ihm zerfließen.
    So wie Gisla sang, klang Lutetia. Nein, nicht die Stadt, aber das Kloster, in das sein Vater ihn gebracht hatte, als er acht Jahre alt geworden war. Das Kloster würde in einer der größten und schönsten Städte der Christenheit stehen, hatte der Vater gesagt - und damit seine Neugier geweckt und seine Angst vor der Fremde vertrieben. Der Vater hatte auch gesagt, dass Gott ihm eine besondere Gabe gegeben habe: Er sei sehr klug, er lerne schnell, er sei wie geschaffen für das Klosterleben. Die Aussicht, ohne Geschwister zu sein, war ihm eigentlich schrecklich, die Gabe ihm lange Zeit mehr als Last denn als Auszeichnung erschienen, aber je länger der Vater von der schönen Stadt und dem noch schöneren Kloster sprach, desto leichter fiel es ihm, Abschied zu nehmen.
    Seine Erinnerungen zerstoben. Eine Stimme drang zu ihm: Beruhige dich, so beruhige dich doch!
    Verspätet merkte er, dass er schluchzte. Er hob den Kopf, starrte in das Gesicht einer Frau, und obwohl er wusste, wer sie war und wie sie hieß, war sie ihm fremd. Die Hütte war ihm fremd, sein ganzes Leben war ihm fremd. Er führte es seit über drei Jahrzehnten nun, aber es war nicht sein Leben, nicht das, welches ihm bestimmt war. Er war fürs Kloster bestimmt gewesen, um Gott zu verherrlichen, zu schreiben, zu beten ... auch zu singen. Aber nicht, um zu töten.
    Das Volk der Heiden hatte ihn dazu gezwungen. Das Volk dieser Frau. Er klammerte sich dennoch weiterhin an sie, blickte sie an. Wie anders könnte er es ertragen, dass das Bild von Lutetia vor ihm aufstieg, so klar wie an dem Tag, als er mit seinem Vater auf die Stadt zugeschritten war? Wie könnte er ihr nicht davon erzählen?
    Die Worte stürzten förmlich aus Taurins Mund. Wahllos begann er zu reden - erst von der mächtigen Mauerumgürtung, die noch aus dem römischen Gallien stammte, dann von den Türmen und Zinnen, die sich stolz gen Himmel reckten.
    »Zwischen den Mauern und dem mächtigen Strom klafften schmale Strände, an denen mancher Fischer seine Kate errichtet hatte. Sie waren aus Holz gebaut, die Häuser auf der Insel selbst aus Stein: der Palast des Grafen, daneben Saint-Etienne, der Bischofspalast mit der großen Aula und die Kirchen Saint-Martial und Saint-Germain-le-Vieux. Zwei Brücken verbanden die Insel mit den Ufern: die Pons major, mit römischen Rundbögen auf mächtigen Pfeilern ruhend, die man in der Mitte wie eine Zugbrücke öffnen konnte und an deren Brückenköpfen sich Türme erhoben. Und die Pons minor, nicht ganz so majestätisch, weil nur aus Holz gebaut. Das Holz kam von den vielen Wäldern aus dem Umland, und wo man sie gerodet hatte, erhoben sich kleine Vorstädte - Bauern lebten hier, Kaufleute mit ihren Kontoren, Handwerker mit ihren Stuben, und sie alle zahlten Pacht an die Klöster, denen das Umland von Paris gehörte: Saint-Germain-l'Auxerrois und Saint-Germain-des-Prés.«
    Letzteres lag nicht in der Nähe des Waldes, sondern auf einem freien Feld, und es bot einen wunderschönen Blick auf die Insel und auf seine geliebte Stadt.
    »Einer der Mönche von Saint-Germain-des-Prés«, fuhr Taurin fort, »hieß Abbo. Er schrieb am besten und am schönsten von allen, und er begrüßte mich an jenem ersten Tag, da ich mit meinem Vater eintraf und zum ersten Mal Lutetia erblickte. Nicht länger sehnte ich mich nach meinen Geschwistern und meinem Zuhause. Die Mönche waren jetzt meine Familie, das Kloster mein Zuhause und Lutetia der schönste Ort für mich auf Erden.«
    Die Hände der Frau strichen über sein Gesicht, brachten ihn zurück in die Wirklichkeit. Eben noch hatten ihn diese Hände davor bewahrt, im Morast seiner Vergangenheit zu ertrinken, jetzt wurden sie auf einmal quälend. Er schlug sie weg und hätte am liebsten auch die Frau geschlagen, hätte sich selbst geschlagen, um den Schmerz in seiner Brust zu betäuben, und zog darum zornig an den Fesseln. Es war vergebens, natürlich, aber wenn er sich schon nicht befreien konnte - vielleicht war es möglich, den Holzpfosten einzureißen und damit das Dach zum Einsturz zu bringen. Er würde erschlagen werden, mit ihm der Schmerz ... und sie auch.
    In

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