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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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um zu singen, so konnte sie auch mit ihm reden - und wieder ein wenig daran glauben, dass die Menschen menschlich waren und die Welt gut.
    »Du bist doch Christ«, sagte sie. »Was stört dich daran, wenn ich zu Gott rufe?«
    »Du darfst das nicht! Du bist unwürdig! Eine Hure bist du!«
    Gisla zuckte zusammen. Seine Worte beschämten sie - und empörten sie auch.
    Ich bin keine Hure, schrie es in ihr. Mir ist ein Unrecht geschehen.
    Sie öffnete den Mund, um Taurin etwas zu entgegnen, aber nicht Worte kamen über ihre Lippen, sondern Gesang. Töne, lichte, leichte Töne, die man nicht fesseln konnte, nicht mit giftigen Pilzen betäuben; sie konnten sich aus einem vermaledeiten Leben davonstehlen.
    Ihr Blick fiel auf Taurin, und was sie sah, waren schiere Panik und blankes Entsetzen - viel eindringlicher noch als der Vorwurf, sie sei eine Hure. Da war nicht nur Hass, da war Furcht. Fürchtete er sich vor dem Teufel, der daranging, seine Seele zu rauben?
    Gisla wusste nicht, was sie antrieb, aber sie erhob sich von ihrer Bettstatt und trat auf ihn zu, von Befremden getrieben und auch von Neugier. Konnte ein anderer noch zerbrochener sein als sie? Es musste so sein.
    Taurin hockte erst ganz steif, als sie einen weiteren Schritt auf ihn zu machte, zerrte dann aber jäh an seinen Fesseln. Er hob die Hände, soweit es ihm möglich war, und es genügte, um ihr Kleid zu fassen zu bekommen und sie zu sich auf den Boden zu zerren. Sie wollte sich wehren, ihm den Stoff entreißen, da schlug ihr Kopf gegen den Pfosten, und ihr Körper erschlaffte. Die Welt drehte sich kurz, und als sie stillstand, brummte ihr Schädel und seine Hände umklammerten ihren Hals.
    »Hör auf!«, brüllte er. »Hör zu singen auf!«
    Seine Hände waren kalt, vor allem aber waren sie stark. Gisla zog daran, versuchte sie wegzuschlagen, trat nach ihm; es gelang ihr nicht, schon raubte er ihr alle Luft, schon glaubte sie sich von Schwärze übermannt. Inmitten dieser Schwärze, mehr Wahnbild als Wirklichkeit, erhob sich ein Schatten. War es ihre Seele, die aus ihrem Körper floh?
    Jäh ließ Taurin sie los, und sie fiel. Ihr Kopf schlug schmerzhaft auf dem Boden auf, der unerträgliche Druck um den Hals ließ jedoch nach; sie konnte wieder atmen. Wie durch einen Schleier nahm Gisla eine Gestalt wahr, die sich über sie beeugte. Als der Schleier sich auflöste, erkannte sie, dass es Runa war.
    Taurin saß an seinen Pfosten gelehnt da, mit gesenktem Kopf und gekrümmten Schultern. Er bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Was Gisla sah, war kein wahnwitziger Mörder, kein hassenswerter Mensch. Und dennoch - ihr Herz schien in ihrer Brust zu zerspringen, ihr Hals schmerzte, und sie spürte Zorn aufwallen.
    »Er ist verrückt!«, schrie sie, sich die schmerzenden Glieder reibend.
    »Warum hast du ihn am Leben gelassen? So töte ihn doch endlich! Töte ihn!«
    Der Wunsch, ihn leblos vor sich liegen zu sehen, drohte sie nicht minder zu ersticken als eben seine Hände. Er ließ erst nach, als Runa ihr Gesicht zwischen die Hände nahm, sie zwang, sie anzusehen. Das Kind strampelte. Es wollte leben wie sie, und dieser Wunsch einte sie.
    »Geh hinaus!«, befahl Runa. »Geh hinaus!«
    »Töte ihn!«
    »Wenn du ihn tot sehen willst, dann musst du es selbst tun.«
    Gisla wich zurück. Sie wollte nichts anderes, als wieder auf ihre Schlafstatt zu flüchten, doch die war nicht länger ihre kleine, vertraute Welt. Taurins Blick konnte dort jederzeit auf sie fallen, und er würde sie wieder mit bösen Worten demütigen.
    »Geh hinaus!«, wiederholte Runa.
    Gisla ging, an der Tür drehte sie sich jedoch ein letztes Mal um. Was sie dann sah, konnte sie kaum glauben.
    Runa hatte sich zu Taurin gekniet. Kurz gab sie den Anschein, als würde sie Gislas Wunsch befolgen und ihn töten, doch dann sah Gisla, dass ihre Händen nicht seinen Hals umfassten, sondern sein Gesicht, und dass diese Berührung nicht grob ausfiel, sondern zärtlich. Und Taurin hob auch seine Hände, nicht, um Runas abzuschütteln, sondern um bei ihr Hilfe zu suchen, ganz so, als würde er im Sumpf versinken und sie die Einzige sein, die ihn herausziehen konnte.
    »Geh hinaus!«, befahl Runa wieder.
    Und Gisla ging. Was immer in Taurins krankem Kopf vorging - sie wollte nichts damit zu tun haben.
    Der Ton war grässlicher als das Klirren einer tödlichen Waffe. Alles konnte er ertragen, das Gelächter von Thure, das Jaulen sterbender Männer, das Flennen einer verzweifelten Prinzessin. Ihren Gesang jedoch

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