Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
nicht, offenbar daran gewöhnt, dass vielerorts das durchstandene Leiden die Menschen wortkarg gemacht hatte.
»Du kannst ein paar der Vögel haben, die ich gejagt habe«, bot Runa ihm an, »wenn wir im Gegenzug einen Tuchballen und Garne bekommen.«
Der Händler ging auf das Tauschgeschäft ein, aber zog danach hastig und ängstlich von dannen, noch ehe er erzählte, wer er war, woher er kam und was ihn hergetrieben hatte.
Gisla strich über das friesische Tuch, es war das Kostbarste, was sie seit langem besessen hatte. »Ich werde ein Kleid nähen können, das nicht nur von Flicken zusammengehalten wird und ständig droht, vom Leib zu fallen!«, rief sie voller Freude.
Ein Kleid zu nähen hieß allerdings, sich mit dem eigenen Leib zu befassen, der runder geworden war, in den nächsten Monaten noch weiter wachsen und vielleicht alsbald zu groß für das neue Kleid sein würde. Der Gedanke erzeugte Verzagtheit in Gisla, und Runa schien ihre Ängste zu erraten. Erstmals schwieg sie nicht.
»Warum versuchst du nicht, ein Kleid zu nähen, wie es die Frauen meines Volkes tragen: Anstelle Ärmel anzunähen, werden an der Brust zwei Bänder angebracht, die mit Broschen oder mit Lederbändern um den Hals befestigt werden. Wenn es kalt ist, trägt man eine Tunika darunter, bei Hitze bleiben die Schultern nackt.«
Auf diese Weise konnte sie ein sehr weit geschnittenes Kleid fertigen, das den Leib verhüllte, ihr jedoch nicht von selbigem rutschen würde.
Gisla begann zu nähen - und sie begann nun immer öfter, auf ihren Leib zu starren, sinnend, ob das, was da hinter der blaugeäderten Haut heranwuchs, womöglich kein Mensch war, sondern ein Inkubus, ein Dämon, und ob sein Gesicht, sobald die Sonne darauffiel, so narbig werden würde wie das von Thure. Der Gedanke an die Geburt war Gisla unerträglich. Sie wusste nicht viel vom Gebären der Kinder, außer dass es wehtat und viele Frauen das Leben kostete.
»Wann wird es so weit sein?«, fragte sie eines Tages Runa.
»Nicht vor dem Spätherbst«, antwortete diese.
Doch schon lange vorher begann Gisla, aus dem Leib zu bluten, nicht stark, aber stetig. Sie verschwieg es Runa zunächst, aber in der Enge der Hütte konnte sie es nicht lange vor ihr verborgen halten.
Runa starrte ratlos auf den Blutfluss. »Die Frauen in meiner Heimat haben gearbeitet, auch wenn sie schwanger waren«, murmelte sie. »Sie bekamen irgendwann das Kind und arbeiteten weiter. Wenn das Kind kräftig war, lebte es - wenn nicht, dann ...«
Sie brach ab.
»Was passierte, wenn es nicht kräftig war?«, fragte Gisla besorgt.
Runa zögerte, wollte ihr die Antwort offenbar nicht zumuten, aber entschied, dass - wenn das Leben sie nicht schonte - sie es ebenso wenig tun sollte
»Bei uns«, sagte sie, »gibt es den Brauch, ein Neugeborenes zu töten, wenn es zu schwach ist, oder es auszusetzen, wenn die Familie dies nicht über sich bringt. Wenn es einen Tag in der Wildnis liegt und immer noch lebt, holt man es zurück - denn dann hat es bewiesen, für die Welt zu taugen.«
Gisla lauschte, erstaunlicherweise von jenem grausamen Brauch kaum erschüttert. Sie fragte sich im Stillen, ob man auch ein Kind, das sie Rollo geboren hätte, entsprechend geprüft oder ob dieses als so kostbar gegolten hätte, um auch als schwaches überleben zu dürfen.
Nach ein paar Tagen hörte sie zu bluten auf. In der kommenden Zeit wurde der Leib dicker und war irgendwann eine so große Last, dass Gisla die Tage auf der Schlafstatt zubrachte.
Runa hingegen wurde erneut von Unrast gepackt. Seit sie nicht mehr an ihrem Schiff baute, gab es nicht viel zu tun. Sie jagte und fischte, aber wenn sie mit der Beute zurückkehrte, war der Tag noch jung. Sie füllte ihn mit Beschäftigungen aus, deren Sinn Gisla nicht ganz durchschaute. Sie nahm ein Messer, dann ein zweites und drittes, und warf sie alle abwechselnd in die Luft, ohne eines von ihnen fallen zu lassen. Ob Gislas verwundertem Blick erklärte sie ihr Tun.
»Ein Mann meines Vaters konnte mit drei Dolchmessern jonglieren, das will ich auch können.«
Nicht nur Gisla, auch Taurin beobachtete sie. Die Müdigkeit der letzten Zeit fiel von ihm ab, stattdessen erwachten Grimm und Trotz. Runa missachtete seinen dreisten, herausfordernden Blick. Gisla fühlte sich beschämt.
»Was starrst du mich so an?«, fuhr sie ihn eines Tages an.
»Schämst du dich denn nicht?«, gab er zurück.
Sie verstand nicht, was er meinte, dachte, er störe sich daran, dass sie ihr
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