Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Runa löste ihre Lippen von denen des Kindes und sah es ungläubig an. Das Kind schrie nicht, aber es gluckste. Es lebte, und sie lebte auch. Sie hatte getötet an diesem Tag, aber sie hatte auch Leben gegeben. Sie hatte dem Tod getrotzt.
Sollte sie das Kind jetzt mit Wasser besprengen und zum Himmel emporheben, als eine Art Opfergabe an die großen Mächte der Natur? Runa verzichtete darauf. Sie hatte diesen Mächten schon genug geopfert und musste sie nicht erst milde stimmen. Sie standen schon auf ihrer Seite - und auf der des Kindes standen sie auch.
Sie hob das Kind hoch, presste es an sich, und auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie nicht mit ihm allein war. Taurin stand starr und mit geschlossenen Augen da. Die von Gisla waren geöffnet, und obwohl der Blick erschöpft und leer war, sah auch sie, dass das Kind lebte. Ihre Lippen verzogen sich zum Anflug eines Lächelns.
»Es ist ein Sohn«, murmelte Runa.
Sie konnte nicht sagen dein Sohn. Natürlich war es Gislas Sohn und Thures. Aber zugleich war es nicht minder ihrer und irgendwie auch Taurins Sohn.
Gisla war zu schwach, um das Kleine im Arm zu halten, so wickelte Runa es in ein Tuch und presste es an sich. Sie musste frisches Wasser holen, aber sie wollte das Kind nicht zurücklassen. Taurin folgte ihr nach draußen und hockte sich auf die Türschwelle, die Augen zwar wieder geöffnet, aber der Blick versunken, als befände er sich in einer anderen Welt.
Sie ging zum Brunnen, verharrte dort aber unverrichteter Dinge und wandte sich ab, um den Weg Richtung Wald einzuschlagen. Runa hatte bisher auf sämtliche Rituale verzichtet, um das Kind den Mächten der Natur darzubieten. Jetzt fühlte sie einen immer stärkeren Zwang, ihnen zu danken, und fand keinen Ort tauglicher als einen inmitten von Bäumen, die viel länger und tiefer in der Erde verwurzelt waren als sie.
Sie hob den Kopf, blickte in die Baumkronen, und das rauschende Grün streichelte nach all dem blutigen Rot ihren Blick.
Das Kind braucht noch einen Namen, dachte sie und entschied, ihm einen zu geben.
Im Norden war es Sitte, ein Kind nach seinen Vorfahren zu benennen, so wie sie nach Asrun und Runolfr benannt worden war, aber für den Kleinen entschied sie anders. Sie wollte ihn nicht mit ihrem oder Gislas Schicksal beflecken, ein Vertriebener zu sein, der fern von der Heimat, fern von den Ahnen leben musste. Nein, er sollte keinen alten Namen bekommen, sondern einen neuen.
Durch die Baumkronen fiel Licht. Im Gebüsch raschelten Tiere oder der Wind.
»Soll ich dich nach dem Wolf benennen?«, flüsterte sie.
Nein, dachte sie dann, er soll nicht wie der Wolf heißen. Er soll seinen Namen nicht von einem Tier erhalten, das durch den Wald schleicht. Besser ist eins, das über ihn hinwegfliegt, machtvoll und stark.
Ein Tier wie der Adler.
»Ja, du sollst fliegen wie ein Adler, und zugleich sollst du tief wurzeln in der Erde wie die kräftigen Bäume«, murmelte sie dem kleinen Bündel in ihren Armen zu.
Adler und Wald.
»Arvid«, bestimmte Runa den Namen des Kindes.
So wie sie bestimmt hatte, dass es lebte.
Die Schmerzen waren wie ein rotes Meer; ganz tief war sie darin untergetaucht und fast ertrunken, doch nun lag sie am Strand, zwar erschöpft, aber nicht tot. Gisla konnte die Augen offen halten, sie konnte sich aufrichten, sie konnte erkennen, was geschehen war. Oder es zumindest erahnen.
Franken, da lagen so viele tote Franken. Runa hingegen war fort und das Kind auch; vielleicht hatten sie sich in Sicherheit gebracht - vor jenem Feind, der noch lebte. Taurin.
Noch hockte er reglos auf der Schwelle, aber Gisla wusste, dass er sie gleich töten würde, dass Runa nur einen von ihnen beiden retten konnte und sich für das Kind entschieden hatte. Die richtige Entscheidung, befand Gisla - denn anders als das Kind konnte sie vielleicht mit eigener Kraft überleben. Sie hatte zu lange mit dem Tod gerungen, um jetzt aufzugeben.
Taurin hob den Kopf, da sah sie Runas Messer neben ihrer Bettstatt auf dem Boden liegen und griff danach. Die Waffe lag schwer in Gislas Händen; sie war sich nicht sicher, ob sie genügend Kraft hatte, sie zu werfen, aber sie war sich sicher, dass sie es versuchen würde, sobald er sie angriff.
Er tat es nicht. Er erhob sich, aber hielt Abstand.
»Du kannst es nicht«, stellte er fest.
Sie leckte sich über ihre Lippen, die rau waren und wund gebissen.
»Doch, ich kann es«, sagte sie mit heiserer Stimme und hob die Hand.
»Nein!«, rief da eine Stimme
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