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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Julia Kröhn
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von der Tür her. Runa war mit dem Kind zurückgekehrt.
    Die Waffe entglitt Gisla und ging klirrend zu Boden. Ihr Körper fiel zurück auf die Schlafstatt.
    »Ich habe doch gesagt, dass du es nicht kannst«, höhnte Taurin nicht länger gleichmütig.
    Als sie ihren Kopf wieder heben konnte, hatte Taurin die Hütte verlassen. Noch immer darin waren jedoch die vielen Leichname.
    »Was ... was ist geschehen?«, fragte Gisla.
    Das Einzige, an das sie sich erinnern konnte, waren die schrecklichen Schmerzen - einem dunklen, erstickenden Tuch gleich. Es hatte sich über alles, was geschehen war, gelegt und es verborgen. Nur einen hatte es nicht verborgen: Thure. Er war da gewesen, sie wusste es genau, er hatte gelacht, er hatte gekämpft.
    Runa gab keine Antwort. Sie trat mit dem Kind näher, und Gisla erhaschte einen ersten Blick auf das Kleine. Es war nicht aus Stein, wie sie manchmal gedacht hatte, sondern aus rotem warmem Fleisch. Es war kein durchtriebener Dämon, der höhnte und lachte, sondern winzig und zart. Sie wagte kaum, danach zu greifen, es zu halten.
    »Warum hast du Taurin nicht getötet?«, fragte Gisla, wie sie es schon so oft gefragt hatte. »Er ist doch unser Feind«, fügte sie hinzu. »Er ...«
    Dann konnte sie nicht weitersprechen, denn Runa legte das Kind neben sie auf die Bettstatt. Seine Augen waren offen und blau, sein Köpfchen zerdrückt, die Haut runzelig, blut- und schleimverschmiert. Die Fingerchen waren zu Fäusten geballt, Schaumbläschen standen in den Mundwinkeln, und es atmete. Gisla streckte die Hand aus, die gleiche Hand, mit der sie eben das Messer gehalten hatte. Undenkbar war nun, als sie das kleine Köpfchen streichelte, dass sie es hätte nach jemandem schleudern können.
    Runa hockte sich zu ihr aufs Bett. Ihr schien Ähnliches durch den Sinn zu gehen.
    Sie streichelte das Kind, zärtlich und liebevoll wie Gisla, und dann verkündete sie: »Ich werde nie wieder jemanden töten.«

K LOSTER S AINT -A MBROSE IN DER N ORMANDIE H ERBST 936
    Gisla. Taurin.
    Seit sie einander gegenüberstanden, waren nicht mehr Worte gefallen als diese zwei.
    Je länger der Klang ihres Namens, den so lange keiner mehr benutzt hatte, in ihren Ohren echote, je länger sie in Taurins Gesicht starrte, das fremd und vertraut zugleich war, desto mehr Fragen regten sich in ihr. Was hatte Taurin mit den toten Franken zu schaffen? Wer waren diese überhaupt? Warum hatte er als Einziger überlebt?
    Zu diesen neuen Fragen kamen alte, die sie all die Jahre nicht losgelassen hatten: Warum hatte Runa ihn damals nicht getötet? Warum hatte er sie nicht getötet, sondern war verschwunden? Vor allem aber: Warum hatte sie nicht das Messer, das sie schon in den Händen hielt, auf ihn geworfen?
    Hätte sie es getan, würde er nicht hier stehen. Arvids Leben wäre nicht bedroht.
    Wut erwachte in ihr, auf ihn und auf sich selbst.
    »Du hast mich gejagt«, brach es aus ihr hervor. »Du wolltest mich töten. Obwohl ich die Tochter eines Königs war.«
    So viel Zeit war vergangen, doch was sie einander zu sagen hatten, war immer noch dasselbe wie einst.
    »Das Blut der Karolinger ist schwach«, zischte er. »Sie waren nicht fähig, Paris zu retten. Und schau dir an, wie dein Vater geendet ist.«
    Jenes Blut in ihr, ob nun schwach oder nicht, rauschte. Er fuhr nicht fort, doch sie glaubte noch mehr höhnende Worte zu hören. Glaubte zu hören, wie er von den Großen sprach, die sich über ihren Vater empörten, weil jener im Schatten eines Mannes ohne Ehre stand. Von den vielen Skandalen, von Gier und Eitelkeit, von abgesetzten Bischöfen. Von mächtigen Feinden, die entschieden hatten, Karls Krone an sich zu reißen, nicht nur ihn, auch den verhassten Hagano zu stürzen, und die Krone erst Robert, dann Rudolf zu geben, Herrscher des mächtigen Burgund.
    Er hat Recht, dachte Gisla. Er hat Recht, dieses Urteil über meinen Vater zu fällen und gleiches Urteil über mich. König Karl war schwach - und sie auch, sonst hätte sie sich nicht in diesem Kloster versteckt.
    Aber an diesem Tag würde sie sich nicht verstecken und schwach sein. An diesem Tag würde sie es sich zunutze machen, dass er sie unterschätzte.
    Sie starrte weiter auf Taurin, den Feind, der Arvid verfolgte, aber zugleich stieg Runas Gesicht ganz deutlich vor ihr auf. Runa, deren Augen so blitzschnell waren, wenn Gefahr drohte, die in Windeseile erfassten, wie und womit man sich retten könnte, die mit einigen wenigen wendigen Bewegungen ihre Feinde bezwingen
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