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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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konnte.
    Aus den Augenwinkeln erkannte Gisla ein Messer; es steckte am Gürtel eines der Toten, vielleicht hielt seine erschlaffte Hand es auch umklammert, und sie hatte kaum mehr als die Dauer eines Atemzugs Zeit, es an sich zu bringen.
    Im nächsten Augenblick fiel sie schon vor Taurin auf die Erde, tat, als würde sie sich ihm unterwerfen und um Gnade flehen. Während er verächtlich auf sie herabblickte, ließ sie sich zur Seite rollen, griff noch in der Bewegung nach dem Messer, stand alsbald mit der Waffe in der Hand wieder vor ihm. Obwohl es Jahre, Jahrzehnte her war, dass sie mit einem solchen Messer zu werfen geübt hatte, fühlte es sich vertraut an.
    Taurin löste sich aus seiner Starre, trat auf sie zu. »Du kannst mich nicht töten«, sprach er, beschwichtigend wie zu einem Kind. »Du hast es auch damals nicht gekonnt.«
    Sie hob das Messer.
    »Nein!«, rief Arvid.
    Ihr entging die Angst in seiner Stimme nicht. Obwohl es ihn zutiefst verstört hatte zu erfahren, dass sie seine Mutter war und nicht Runa, fürchtete er um ihr Leben und dass Taurin sie als Erster überwältigte.
    Runa würde es schaffen, dachte er wohl, sie nicht.
    Aber in diesem Augenblick war sie Runa.
    Die Frau, die kämpfte, die Frau, die Arvids Leben schützte.
    »Das schaffst du nicht«, wiederholte Taurin. »Das wagst du nicht.«
    »Nein!«, rief Arvid wieder.
    Sie dachte nicht weiter nach und schleuderte das Messer, fühlte die Kraft, die ein Raubvogel fühlt, wenn er auf den Hasen niederstürzt, fühlte die Kraft der Wölfin, wenn sie ihre Zähne in das Opfer schlägt, fühlte die Kraft der Schlange, wenn sie ihr Gift verspritzt.
    »Doch«, sagte sie. »Doch, diesmal wage ich es.«

XII.
    N ORDMÄNNERLAND H ERBST 912
    Runa hatte Wasser erhitzt, Gisla gewaschen und versorgt. Das Kind war eingeschlafen, nachdem Gisla es an ihrer Brust genährt hatte, obwohl sie vor Fieber glühte. Runa wusste nicht, wie lange die Milch reichen, ob das winzige Wesen, das viel zu früh geboren worden war, überleben konnte, und ob Gisla das Fieber überstehen würde. Aber jetzt schlief auch sie, und der Schlaf tat den beiden gewiss gut.
    Runa mochte nicht daran denken, was sie jetzt tun musste, aber es führte kein Weg daran vorbei. Sie vermied es, in die Gesichter der Toten zu sehen, vor allem in das von Thure, presste die Augen zu Schlitzen, um nur unscharfe Konturen zu erkennen, und machte sich daran, die Leichen nach draußen zu schleppen.
    Plötzlich nahm sie einen Schatten wahr. Runa zuckte zusammen, glaubte kurz schreckerstarrt, dass einer, den sie für tot gehalten hatte, noch lebte und sich nun rächen wollte. Doch dann erkannte sie, dass der, der da stand, keinen Durst nach Rache mehr hatte.
    Es war kein anderer als Taurin, der zurückgekommen war.
    »Du bist noch hier ...«, stellte sie fest.
    Er sagte nichts, half ihr schweigend, die Männer in den Wald zu schleifen. Die Arbeit war schweißtreibend und anstrengend wie jede andere harte Arbeit auch, aber er war wie sie - er tat, was getan werden musste.
    Sie hatte versucht, Thures Leichnam zu ignorieren, doch irgendwann konnte Runa sich nicht länger blind stellen und überwand sich, ihn zu betrachten. Es bereitete ihr weniger Ekel als vielmehr Triumph, ihn so zu sehen und sicher zu sein, dass er ihr nie wieder schaden konnte. Noch im Tod war sein Mund zu einem Lächeln verzerrt, und sie fragte sich unwillkürlich, wo er jetzt war. Im dunklen Reich Hels? In Walhall, weil er im Krieg gestorben war? In jener Höhle, wo Loki gefangen saß?
    Sie begannen, ein Loch zu graben, und es wurde Abend, bis es tief genug war, um die Leichen zu verscharren. Die Luft kühlte ab, aber sie schwitzten immer noch. Sie schwiegen, während sie gruben, und waren sich auch ohne Worte nah wie nie zuvor. Das Verscharren der Toten schien sie mehr zu einen als die Monate in der Hütte, der Tag, da er von Lutetia erzählte hatte, oder der gemeinsame Kampf gegen die fränkischen Krieger.
    Als die Arbeit endlich getan war, wandte Runa sich ab, ging durch den Wald, kletterte über die Klippe und erreichte den Strand. Die Wellen waren ungewohnt schweigsam. Das Wasser umspülte ihre Füße, aber das war ihr zu wenig Abkühlung. Sie riss sich ungeduldig die verschmutzte Kleidung vom Leib, watete tiefer ins Wasser, tauchte erst bis zum Hals hinein und ließ dann die Fluten auch über ihrem Kopf zusammenschlagen. Als sie prustend wieder auftauchte und zum Ufer blickte, stand Taurin dort.
    Sie sah, dass er begann, sich

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