Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
waren nicht ganz so entschieden darauf ausgerichtet, alles Menschliche mit Gewalt auszumerzen, auf dass nur Heiliges bliebe.
Ob ihrer harschen Worte senkte Mathilda den Blick und trat zur Seite. Zum ersten Mal sah die Äbtissin den jungen Mann nicht liegen, sondern sitzen. Die Haare fielen ihm strähnig in die Stirn, er hockte wie erstarrt da. Er trug eine saubere Tunika, und die Äbtissin fragte sich, ob es womöglich nur ein in zwei Teile zerrissenes Nonnengewand war. Das Amulett, dessen Anblick sie drei Tage zuvor so erschüttert hatte, lag nicht unter der Tunika verborgen, sondern auf dem rauen Stoff. Als die Äbtissin näher kam, griff er wie schutzsuchend danach - eine erste schnelle Regung.
Die Äbtissin zauderte wieder, überwand sich schließlich doch und hockte sich zu ihm. Sie überlegte, Mathilda fortzuschicken, aber war sich nicht sicher, ob sie ertragen könnte, mit dem Mann allein zu sein. Jetzt hob er den Kopf und schüttelte das Haar aus der Stirn.
»Ehrwürdige Mutter«, hauchte er.
Seine Stimme klang heiser, aber die Worte waren gut zu verstehen. Er nutzte keine der nordischen Sprachen, wie die Äbtissin trotz seiner Tonsur instinktiv erwartet hatte, sondern akzentfrei die lingua romana, die in der ganzen Francia, wie man das Westfränkische Reich nannte, gesprochen wurde. Sein Blick war fest auf sie gerichtet, sie hingegen hielt seinem kaum stand. Warum sprach er die ersten Worte ausgerechnet zu ihr? Ahnte er, wer sie war? Doch müssten seine Züge dann nicht von heftigen Gefühlen zerrissen sein, von Wut oder Trauer, von Freude oder Neugier?
Nichts davon war zu erahnen, als er ausdruckslos hinzufügte: »Habt Dank für die Gastfreundschaft. Christus wird sie Euch lohnen.«
Die Äbtissin schloss die Augen, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen.
Er war getauft. Gott sei Dank war er getauft.
Und dennoch trug er dieses heidnische Amulett.
Sie kaute auf ihren Lippen, zwang sich dann, eine Frage zu stellen. »Du bist Arvid, nicht wahr?« Sie sprach so heiser wie er.
Sein Blick senkte sich, dann nickte er.
Ihre Augen blieben starr auf das Amulett gerichtet. »Du trägst das Zeichen der Wölfin«, stellte sie fest. »Runas Amulett.«
Eine Weile schwieg er. »Sie hat mir von Euch erzählt«, kam es schließlich flüsternd. »Sie hat gesagt ... wenn ich jemals Hilfe brauche ... sei ich hier in Sicherheit.«
Die Äbtissin schluckte. »Und warum brauchst du Hilfe? Wie ... wie wurdest du so schlimm verletzt?«
Auf seiner Stirn stand Schweiß. Er sagte nichts mehr, und sie entschied, ihn nicht weiter zu bedrängen.
Doch kaum erhob die Äbtissin sich, bekannte er hastig: »Jemand trachtet mir nach dem Leben. Wahrscheinlich wisst Ihr, dass ... er es ist.« Er machte eine Pause, ehe er seine Worte bekräftigte. »Ja, ich bin sicher, er will mich töten.«
II.
L AON S OMMER 911
Der Schrei, schrill und verzweifelt, durchbrach den Gesang und ließ Gisla verstummen. Für gewöhnlich gab es nichts, was ihren Gesang störte. Die Kemenate der königlichen Pfalz, in der sie lebte, lag fern vom Lärm des Hofs, und nur wenige Frauen und der Priester wagten es, sie zu betreten.
Jener Priester war nicht immer glücklich über den Gesang. Gewiss, Gislas Stimme sei engelsgleich und könne dem erbärmlichen Menschen eine Ahnung von jenseitiger Glorie schenken - eine Wohltat und ein Zeichen der Hoffnung im hiesigen Jammertal. Und doch, der einzig rechte Ort, um zu singen, sei das Gotteshaus. Und der einzige Zweck, es zu tun, sei, Gott zu huldigen. Einfach nach Lust und Laune zu singen, weil es die Ohren der Mutter und der einstigen Amme erfreute und weil man es meisterhaft konnte, war hingegen eine Sünde und verriet nicht weniger eine hoffärtige Seele als prächtige Kleider und funkelnder Schmuck. Auf beides konnte Gisla verzichten, obwohl sie als Königstochter immer nur in edelste Stoffe gekleidet war - dem Singen zu entsagen war ihr jedoch unmöglich, vor allem dann, wenn der Priester sie nicht mit mahnenden Worten davon abhielt, die Amme Begga sie hingegen dazu ermutigte.
Jetzt sah Begga sie entsetzt an. Gislas Kehle wurde trocken, als ein zweiter Schrei ertönte, gefolgt von Worten, nicht minder schrill und verzweifelt.
»Ich lasse das nicht zu! Ich werde das nicht zulassen!«
Gisla und Begga tauschten betroffene Blicke. Es war Gislas Mutter Fredegard, die so schrie, noch nie hatte eine von ihnen ähnlich durchdringende Laute aus ihrem Mund vernommen. Fredegards Blick war manchmal traurig
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