Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
gesehen, aber von dem sie schon oft gehört hatte, doch dann sah sie, dass dieser große, dürre Mann die Tracht eines Bischofs trug: die runde Kopfbedeckung, den roten, mit Hermelin verbrämten Bischofsmantel, das schwere, gleichfalls rot funkelnde Kreuz auf der Brust.
Gisla war auf der Schwelle verharrt, und dorthin trat ihr nun der Bischof entgegen. Sie überlegte, ob sie sich verneigen und ihm die Hand küssen sollte. Das tat sie stets, wenn sie dem Vater begegnete, und dieser richtete sie dann auf, strich ihr über das Haar und nannte sie »meine Gisla«.
An diesem Tag blieb der Vater stumm. Und der Bischof streckte seine Hand nicht nach ihr aus, sondern erklärte lediglich: »Du bist also Gisla, des Königs älteste Tochter.«
Hastig eilte die Mutter zu ihr und zog sie an sich. Ihre Schritte waren lautlos, die Stimme hingegen fest.
»Seht Ihr nicht, wie zart sie ist?« Ihr Blick, den sie zunächst auf den Bischof, dann auch auf den König richtete, war zornig und erschüttert zugleich. »Seht sie an, und dann sagt es ihr! Sagt ihr, was ihr mit ihr vorhabt! Wenn ihr es denn noch könnt!«
König Karl sank in sich zusammen. Nein, er sah Gisla nicht an, und nein, er sagte nicht, was er mit ihr vorhatte. Er wandte sich einfach von ihr ab.
Gisla sah, wie eine Träne über die Wange der Mutter perlte, als sie über ihr Gesicht streichelte. Sie begriff nicht, was vor sich ging. Was konnte so schrecklich sein, dass es ihre Mutter zum Weinen brachte?
Schließlich begann der Vater doch zu reden - keine erklärenden Worte, vielmehr verworrene, aber er sprach.
»Wir müssen dieses Opfer bringen«, sagte er leise. »Alle, die wir hier stehen, wissen, wie viele Feinde das Reich bedrohen. Zumindest mit den Eindringlingen aus dem Norden müssen wir endgültig Frieden schließen.«
»Aber doch nicht zu diesem Preis ...«, setzte die Mutter an.
Des Königs Schultern zuckten, Hagano aber straffte seine. »Werte Fredegard«, begann er, eigentümlich lächelnd.
Die Mutter zuckte zusammen, als hätte sie der Schlag getroffen. Offenbar fand sie es schmählich genug, wenn andere sie mit ihrem Namen ansprachen und nicht mit dem Titel »meine Königin«, nach dem sie sich insgeheim sehnte - doch aus dem Mund eines Emporkömmlings und eines Verwandten der wahren Königin klang es wie eine schlimme Beleidigung.
»Werte Fredegard«, begann Hagano jedoch seelenruhig ein zweites Mal. »Ich weiß, dass es dir das Herz zerreißt. Ich weiß auch, dass dich allein die Vorstellung ängstigt, Gisla einem Unhold anzuvertrauen.« Er hob entschuldigend die Hände. »Aber lass dir gesagt sein: Ein solcher Unhold ist Rollo nicht. Seit einigen Monaten lässt er sich von einem Priester, der die nordische Sprache beherrscht und den Namen Martin trägt, unterrichten. Dieser Martin wiederum wurde vom Bischof von Chartres persönlich beauftragt, die Nordmänner zu missionieren. Es heißt, er habe Rollo bereits das Credo beigebracht. Warum also sollten wir nicht hoffen, dass er ein guter Christenmensch wird wie einst Hundeus - auch er ein Heide, der unser Land heimsuchte, schließlich aber bekehrt wurde? Im Übrigen kann das, was ich sage, auch der Bischof von Rouen bestätigen.«
Er wies mit dem Kinn auf den Kleriker. Der Bischof war also Witto von Rouen.
Obwohl Gisla ihr Leben in Laon verbracht hatte, war ihr der Name der Stadt vertraut. Man sprach von Rouen nicht nur oft, sondern voller Mitleid und Entsetzen. Kaum eine Stadt im Norden des Reichs war so oft den Angriffen der Nordmänner zum Opfer gefallen wie diese. Mittlerweile war sie fest in deren Hand und die meisten Franken geflohen.
»Ja«, sagte der Bischof indes, »ich kann es bestätigen. Nicht nur, dass Rollo sich von Bruder Martin unterweisen lässt, sondern auch, dass jeder Priester von Rouen, mich eingeschlossen, unter seinem Schutz steht. Und sein Wort gilt. Die Übergriffe, unter denen wir zu leiden hatten, sind selten geworden, und überdies hat er befohlen, gestohlene Reliquien wieder an ihren rechtmäßigen Platz zurückzubringen. Bedenkt jedoch, werte Fredegard«, nun sprach auch er ihren Namen aus, »bedenkt, dass nicht nur Rouen Rollos Schutz braucht, sondern so viele andere Städte, Kirchen und Klöster, einst blühende Orte unseres Reichs, jetzt längst in der Hand der Nordmänner. Der Mont-Saint-Michel, Saint-Ouen, Jumièges, Wandrille, selbst Saint-Denis sind auf Rollos Schutz angewiesen - weil wir selbst ihn nicht mehr zu gewähren vermögen. Unmöglich können wir
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