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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Julia Kröhn
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Bewegung, ob von Beinen oder Armen, begann zu schmerzen. Eine Weile schwamm sie blind, als sie die Augen wieder aufschlug, war der graue Streifen etwas breiter - nicht mehr fadendünn, sondern dick wie ein Finger.
    Zu weit, dachte sie ... es ist viel zu weit.
    Und doch schwamm sie unermüdlich weiter, nichts anderes blieb ihr noch. Die Wellen schlugen erst immer höher über ihrem Kopf zusammen, ließen schließlich von ihr ab. Der diesige Himmel leuchtete im letzten Tageslicht orangerot auf und wurde dann schwarz wie das Meer. Der Mond erschien am Nachthimmel, von Wolkenfetzen umwoben wie von einem Spinnennetz. Er und die Sterne allein wiesen ihr den Weg.
    Wie breit die Klippen sich nun vor ihr erhoben, ließ sich im Dunkel nicht länger erahnen. Runa schwamm ins Nichts. Dann ließen die Schmerzen in den Gliedern nach - gefühllos wurde die Haut, der ganze Leib. Sie hätte nicht einmal beschwören können, ob sie überhaupt noch schwamm, doch es musste so sein, denn schließlich hielt sie den Kopf über Wasser. Mondlicht glitzerte auf den spitzen Wellen, ein schönes, aber kaltes Licht. Es bewies, dass Thure gelogen hatte: Der nahe Tod schenkte keine Farben, schenkte nur Weiß und Schwarz - und vielleicht ein wenig Silber.
    Aber vielleicht war sie dem Tod auch nicht nahe genug. Noch schwamm sie, atmete sie, lebte sie.
    Irgendwann stießen ihre Füße auf Widerstand.
    Irgendwann lag sie auf festem Grund.
    Das Erste, was Runa bewusst wurde, als sie zu sich kam, war der Geschmack von Sand. Ihre Kehle fühlte sich so an, wie die des Vaters sich angefühlt haben musste, nachdem er von Thures Gift getrunken hatte. Eine Weile konnte sie nur liegen, ausgelaugt und erschöpft, dann stützte sie ihre Hände auf und versuchte sich zu erheben. Schmerzen peinigten den Leib. Jedes Glied schien zu schreien.
    Runa zitterte, aber sie gab keinen Schmerzenslaut von sich. Nicht der Klang ihrer Stimme, einzig der Sand in ihrem Mund und das Weh in ihren Gliedern waren Zeichen dafür, dass sie noch lebte. Nebel waberte um sie herum - seltsam tröstlich. Von dem fruchtbaren Land, das der Vater versprochen, aber das sie bis jetzt noch nicht gesehen hatte, hätte sie sich verspottet gefühlt. Die grauen Felsen hinter dem farblosen Dunst waren ihr hingegen vertraut. Nein, Heimat war es nicht, würde es niemals sein, aber auf diesem Fleckchen Sand inmitten schroffer Klippen und rauer See, schwor sie sich, auch weiterhin nicht zu sterben: nicht unter Thures Pfeilen, nicht in den eisigen Fluten.
    Keuchend raffte Runa sich auf. Ihre Knie bebten schon beim ersten Schritt, aber irgendwie gelang es ihr, Fuß vor Fuß zu setzen, bis sie es zu einem kleinen, runden Stein geschafft hatte. Dort ließ sie sich fallen, hockte eine Weile gekrümmt und begann, die Umgebung abzusuchen. Wenn sie leben wollte, nicht nur irgendwann wieder in der verlorenen Heimat, sondern einfach nur bis zum nächsten Tag, brauchte sie trockene Kleidung und etwas zu essen.
    Und wenn sie gar nicht lebte, sondern gestorben war? Vielleicht war dies hier nicht der nördliche Zipfel des Frankenreichs, den man Nordmännerland nannte, sondern Niflheim, das Reich der Toten inmitten der gähnenden Leere des gefrorenen Nordens. Nein, das war nicht möglich - in Niflheim war stets Nacht, hier aber war der Himmel von einem blassen Blau.
    Ich lebe, dachte Runa, und diese Gewissheit verhieß Triumph und Sehnsucht zugleich. Triumph über Thure und Sehnsucht nach Wärme.
    Nicht mehr ganz so schmerzhaft zog sich ihre Kehle zusammen, als sie sich vom Stein erhob. Runa drehte sich nach sämtlichen Richtungen, um einen Weg in die Welt hinter den Klippen zu finden. Sie waren zu steil, um einfach hochzuklettern, aber der Sandstreifen wurde hinter einem der Felsentürme breiter. Sie ging am Meer entlang, und in der Ferne erahnte sie das Grün wogender Gräser. Oder war es nur das Trugbild ihres verwirrten Geistes?
    Gewiss kein Trugbild war das Geräusch, das Runa im nächsten Augenblick vernahm. Zum steten Rauschen der Wellen und dem Gekreisch der Möwen gesellte sich plötzlich das Getrappel von Pferdehufen.
    Runa zuckte zusammen, versteckte sich hastig zwischen zwei Felsen. Die Wellen leckten an ihren Füßen, so wie einen kurzen Augenblick die Todesangst an ihrer Lust zu überleben.
    Unwillkürlich fuhr ihre Hand zur Brust und umfasste das Amulett der Mutter, das ihr die Großmutter nach deren Tod umgelegt hatte. Seit Tagen hatte sie es nicht berührt, und doch hatte es ihre Flucht vom Schiff heil
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