Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Schreckensminuten. Obwohl längst im sicheren Wagen, sah sie die Krieger deutlich vor sich, hörte ihr Gebrüll, fühlte, wie die kräftigen Pranken nach ihr griffen. Sie war verwundert, dass sie nicht vor Schreck gestorben war - und noch mehr, dass dieser Tag unbeirrt seinen Fortgang nahm. Nur ihre Welt war aus den Angeln gehoben worden, die andere jedoch stand von allem unberührt, und in dieser Welt ging es auf der alten römischen Straße geradewegs auf Rouen zu.
Die Zeit schien sich im Kreis zu drehen, sie immer wieder zu dem Augenblick zurückzuführen, da sie den ersten Toten ihres Lebens gesehen hatte, doch dann stellte sie fest, dass sich dieser Tag - so entsetzlich er auch gewesen war - wie jeder andere seinem Ende zuneigte.
»Wir müssen nun endlich ...«, setzte Aegidia an.
Erst jetzt gewahrte Gisla - wie aus einem dunklen Traum erwachend -, dass die Gefährtin all die letzten Stunden kein Wort gesagt hatte und dass sie immer noch nicht ihre Kleidung getauscht hatten. Rasch zog sie ihre Tunika vom Leib, erleichtert, etwas tun zu können, was sie von den Erinnerungen ablenkte. Diese Erinnerungen kehrten jäh zurück, als sie die Kratzspuren und die blauen Flecken sah, die ihren Unterarm übersäten. Rührten sie von den Pranken des Kriegers? Oder von diesen anderen Händen, kräftig wie jene, aber nicht ganz so schwielig und breit - den Händen der Frau, die sie in den Wagen zurückgestoßen hatte? Eigentlich war sie sich nicht sicher, ob es überhaupt eine Frau gewesen war.
Sie zog apathisch Aegidias Kleidung über, und diese die ihre. Gisla presste sich an die Holzwand des Wagens, wollte nichts mehr sehen, schon gar keinen Himmel. Sie wollte auch nichts hören, aber Aegidia hatte die Sprache wiedergefunden und begann erneut zu plappern.
Rouen sei eine stolze Stadt, erzählte sie. Schon in römischen Zeiten sei sie gegründet worden und habe damals Rotomagus geheißen. Eine schwere Mauer schütze sie, ein großer Hafen mache sie zu einem lebhaften Handelszentrum.
Gisla beugte sich nun doch vor und spähte durch die Luke, sah aber nicht viel, vor allem nichts Lebhaftes. Ihr fiel ein, dass auch sie manches über die Stadt gehört hatte, so, dass es viele Kirchen gab - neben der Ecclesia Prima, Notre Dame, auch Saint-Étienne, Saint Martin du Pont und Saint-Pierre außerhalb der Mauern, des Weiteren zwei Klöster: Saint Sauveur und - im Norden der Kathedrale - Saint Amand.
Soeben ertönte Glockengeläut, und Gisla lauschte zutiefst dankbar für das Zeichen, dass die Stadt offensichtlich kein gottverlassener Ort war und Rollo, der versprochen hatte, all die zerstörten Gotteshäuser wieder aufzubauen, kein böser Mensch. Wenn etwas an diesem schrecklichen Tag Trost verhieß, dann das: dass es einen guten Gott im Himmel gab und auf Erden Menschen, die zu ihm beteten.
Als Gisla sich noch weiter vorbeugte, sah sie nicht nur Kirchen oder mächtige Römermauern, sondern auch kleine, windschiefe Gebäude.
»So viele Menschen sind in den letzten Jahren nach Rouen geflüchtet«, fuhr Aegidia fort. »Sie haben hier kaum Platz zum Leben, aber sie fühlen sich hier sicherer als im Cotentin, woher die meisten stammen.«
Gisla wusste nicht, wo das Cotentin lag, aber ihr Herzschlag beruhigte sich etwas. Wenn diese Menschen hier Schutz fanden, dann könnte sie es vielleicht auch - und mit der Kleidung, die sie Aegidia überreicht hatte, hatte sie vielleicht auch ihre Erinnerungen abgelegt. Zumindest spukten sie ihr nicht mehr ganz so eindringlich im Kopf herum, und sie wurden noch blasser, als sie draußen auf den Straßen eine Gruppe Mönche sah. Der Wagen rollte an ihnen vorbei, doch nicht weit von dieser ersten Gruppe stand eine zweite, um den Bischof von Rouen zu erwarten.
Der Bischof war ein mächtiger Mann - nicht nur Herr von Rouen, sondern Metropolit von Evreux, Sees, Lisieux, Bayeux, Coutances und Avranches - und seine familia groß. Zu all den Klerikern, die bereits an seinem Hof lebten, hatten sich jene gesellt, die in den letzten Jahren aus ihren Klöstern geflohen waren; sie hatten die Reliquien ihrer verehrten Heiligen hierher nach Rouen gebracht.
Gisla sprach ein rasches Gebet zu diesen Heiligen - dem heiligen Leo von Coutances, dem heiligen Germanus Scotus, dem heiligen Johann.
Lasst alles gut werden ... Steht mir ... steht vor allem Aegidia bei.
Auch der Körper des Sankt Clarus war seinerzeit nach Rouen gebracht worden, doch zu ihm wagte sie nicht zu beten. In der Nähe seiner Kirche war
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