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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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wusste Gisla nicht. Sie überließ sich ganz der Führung der Fremden, und kaum dass sie das Tor durchschritten hatten, auch dem ihr eigenen Drang zu rennen: immer schneller und immer weiter fort von Menschen, die sie erkennen konnten.
    Von der Stadtmauer führte eine Straße aus großen Steinquadern ins Land, doch sie verließen sie alsbald und liefen über Wiesen und Weinberge in Richtung der großen, dichten Wälder. Die Erde unter Gislas dünnem Schuhwerk war kalt, die Wurzeln, über die sie stolperte, waren hart, aber nichts konnte sie dazu bewegen, innezuhalten.
    Die andere lief noch schneller als sie - ohne zu keuchen, zu stolpern oder zu fallen, wie Gisla es mehrmals tat. Immerhin blieb die Frau dann kurz stehen, um sich nach ihr umzudrehen und zu warten, bis sie sich wieder aufgerafft hatte. Nach einer Weile nahm sie sogar ihre Hand, um sie mit sich zu ziehen, doch was immer sie bewog, ihr zu helfen - Freundlichkeit war es nicht. Der Griff war hart, der Ausdruck ihres Gesichts streng, die dunklen Augen nicht etwa besorgt oder neugierig auf sie gerichtet, sondern abschätzend.
    Dann hatten sie den Wald erreicht. Das Licht, das durch das Astwerk drang, war grünlich fahl, der Drang zu rennen ließ nach. Zurück blieben Erschöpfung und die Furcht, einen Fehler gemacht zu haben.
    Zaudernd blickte Gisla sich um. Die Mauern von Rouen hatten eben noch einen Hort der Gefahr verheißen, wo Mörder sie verfolgten - nun wäre sie froh gewesen, wenn sie irgendetwas gesehen hätte, was von Menschenhand errichtet war. Aber da waren nur Geäst und Moos und Farne und die raue Rinde der Bäume. Nichts, das wärmte, nichts, das satt machte, nichts, das Geborgenheit schenkte. Und da war diese Frau, an die sie sich zwar eben noch Schutz suchend geklammert hatte, die ihr nun jedoch wenig menschlich erschien. Sie betrachtete sie, als wäre sie eine Beute. Gisla nahm all ihren Mut zusammen, die Frau ihrerseits eingehender zu mustern. Schon im Kerker hatte sie eine Ahnung gestreift, jetzt wurde Gewissheit daraus: Diese Frau mit dem raspelkurzen Haar war dieselbe wie jene, die in der Nähe von Saint-Clair-sur-Epte den Wagen aufgehalten, sie während des anschließenden Kampfes gepackt und in das Gefährt zurückgestoßen hatte.
    Während sie sie staunend anstarrte, versuchte sie sich zu erinnern, ob sie je von einem weiblichen Wesen mit solch kurzen Haaren gehört hatte. Ihr fiel die Geschichte einer Heiligen ein, die reich geboren worden war, aber die Armut Gottes suchte, ins Kloster ging und dort jeglichem Tand abschwor - Riechfläschchen und Schmuck, pelzverbrämter Palla und perlengeschmückter Haube. Und die sich zuletzt auch die Haare schor, zum Zeichen, dass irdische Schönheit so rasch welkte wie Blumen auf der Wiese.
    Diese Frau aber war keine Nonne und schon gar keine Heilige. Sie hatte zwei Männer überwältigt: den Wärter, der aus dem Mund roch, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gegessen als fauligen Fisch und vergorenen Wein getrunken, und diesen anderen Mann, Taurin, der sie töten wollte. Oder vielmehr Aegidia. Nein, doch sie. Hätte er sie im Kerker mit so viel Befriedigung angeblickt und gar gelächelt, wenn er nicht ihr Geheimnis kannte?
    Und ob auch diese Frau wusste, wer sie war?
    In jedem Fall schien sie über etwas nachzudenken, denn ihre Stirn war gerunzelt. Vielleicht überlegte sie, sie einfach im Wald zurückzulassen. Gisla stürzte auf die Gefährtin zu, griff nach ihren Händen. Sie waren fast so rau wie die Rinde der Bäume um sie herum, nur etwas wärmer.
    »Bitte, hilf mir!«, stammelte Gisla.
    Die Frau riss sich los. Sie hockte sich auf einen Stein, auf dem Moos wucherte. Gisla tat es ihr gleich, überlegte fieberhaft, was sie nun tun sollte.
    Schließlich wiederholte sie mit kläglicher Stimme: »Bitte, hilf mir!«
    Die Frau beherrschte ganz offensichtlich ihre Sprache nicht; sie schwieg weiterhin, aber eines verstand sie anscheinend auch ohne Worte: dass Gisla müde war, hungrig und erschöpft, und dass sie fror. Denn plötzlich griff sie nach dem Lederbeutel, den sie um ihren Hals trug - genauso wie dieses Amulett, in das ein sonderbares Zeichen eingeritzt war - öffnete ihn und zog etwas heraus, was kleinen Steinen glich. Sie bot Gisla davon an, und während diese befremdet zurückwich, nahm sie selbst dieses Etwas in den Mund, kaute eine Weile darauf und schluckte es.
    Zögernd griff Gisla nach den kleinen Brocken, hielt sie zwischen den Fingern und betrachtete sie. Sie waren

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