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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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ihre Worte Heuchelei verhießen oder nicht. Die Subpriorin entstammte einer reichen Sippe, und solche Sippen waren stets bestrebt, den Töchtern ein möglichst hohes Amt zu verschaffen und selbst Ehre daraus zu ziehen. Allerdings entsprach es wohl der Wahrheit, dass sie mit einem solchen Amt überfordert wäre: Bis jetzt war es ihre Aufgabe gewesen, das Essen zuzuteilen und darüber zu wachen, dass nie mehr Nonnen aufgenommen wurden, als das Kloster nähren konnte. Sie war stets nur Garantin für das körperliche Wohl der Schwestern gewesen, nie für das geistliche.
    »Meine Sünde ist nicht einfach durch rechte Buße zu tilgen«, erwiderte sie leise, sodass nur die Subpriorin sie hören konnte. »Denn das Schlimme ist - vielleicht ist es nicht einmal eine Sünde. Hier im Kloster können wir uns frei entscheiden zwischen guten und schlechten Taten. Doch draußen in der Welt gerät man häufig in den Strudel fremder Taten und kann nichts tun, als darauf zu reagieren. Manchmal führt das Gute dadurch zum Bösen und das Böse zum Guten. Und was noch schlimmer ist: Manchmal erscheint nicht mehr offensichtlich, was gut ist und was böse. Was mir einst geschehen ist, ist entsetzlich. Doch wenn ich sehe, was daraus hervorgegangen ist, ist es richtig und gut. Wie ich mich dazu verhalten habe, war erbärmlich. Und zugleich gibt es nichts, was mich stolzer macht als diese Entscheidung.«
    »Was ist Euch geschehen?«, fragte die Subpriorin verwirrt.
    Die Äbtissin schüttelte den Kopf. Sie hatte schon zu viel gesagt - unmöglich war es, die ganze Wahrheit auszusprechen. Die Fassungslosigkeit würde sich in Abscheu wandeln, das aufgeregte Geschwätz in peinvolles Schweigen.
    Dieses Schweigen senkte sich jedoch plötzlich auch ohne Geständnis über sie - und diesmal verhieß es nicht Spannung wie zuvor, sondern Totenstarre. Ob des Tumults hatte die Äbtissin nicht gehört, was hinter ihrem Rücken vorging - dorthin aber starrten nun alle Schwestern, und als sie herumfuhr, stand Arvid da im Klausurbereich, dessen Betreten jedem nicht dem Orden Angehörigen streng verboten war. Die meisten Nonnen hatten nur von seiner Anwesenheit gehört, ihn aber noch nicht gesehen. Sie blickten ihn an wie ein wildes Tier.
    Obwohl keine etwas zu sagen wagte, hob die Äbtissin erneut beschwichtigend ihre Hand. Langsam trat sie auf Arvid zu. Ihn anzusehen, ohne den Kopf zu senken, war eine große Prüfung. Es vor den Blicken der anderen Schwestern zu tun und obendrein in der Klausur war ihr fast unerträglich. Aber sie wusste - sie durfte sich ihre Verzagtheit nicht anmerken lassen, der Nonnen wegen und vor allem um seinetwillen.
    Sie deutete Arvid mit dem Kinn hinauszugehen, und gottlob tat er es ohne Widerstand. Sie gemahnte die Nonnen mit einem Blick, im Refektorium zu warten, und folgte ihm nach draußen.
    »Verzeiht«, murmelte er jetzt, »ich wollte nicht stören ... Ich dachte nur ...«
    Er war bleich und sie sich nicht sicher, ob es an seiner Wunde lag oder am Aufruhr der Nonnen, den er sich wohl nicht erklären konnte.
    »Ich habe meinen Rücktritt beschlossen«, sagte sie rasch, um seine Verwirrung nicht noch zu verstärken. »Ich kann nicht länger Äbtissin des Klosters sein.«
    Es war viel leichter, es ihm zu sagen als den Schwestern. Er wusste als Einziger, warum sie es tat, ja, tun musste, er würde sie verstehen.
    Doch als sie ihren Blick hob, sah sie, dass sein Gesicht noch bleicher wurde und er die Augen weit aufriss. Aus dem Antlitz des erwachsenen Mannes wurde das hilflose eines Kindes.
    Nicht weniger entsetzt als ihre Schwestern rief er: »Aber warum nur?«
    »Das weißt du doch! Ich kann nicht länger mit dieser ... Lüge leben.«
    »Welcher Lüge?«
    Sie ahnte Schlimmes. »Du weißt es nicht?«, fragte sie erschüttert. »Aber du hast doch gesagt, du kennst die Wahrheit!«
    »Die Wahrheit ist, dass in meinen Adern nicht nur das Blut christlicher Franken, sondern auch das heidnischer Nordmänner fließt. Aber warum tretet Ihr deswegen zurück? Was habt Ihr damit zu tun?«
    Die Welt wankte. Was sie zuvor der Subpriorin gesagt hatte, erwies sich einmal mehr als Wahrheit. Manchmal ließ sich Gut und Böse nicht einfach unterscheiden. Manchmal tat man das Richtige, und es war das Falsche. Richtig war, dass er einen Teil der Wahrheit kannte, falsch jedoch anzunehmen, es wäre die ganze.

V.
    N ORDMÄNNERLAND S EPTEMBER 911
    Als Aegidia erwachte, fror sie, aber sie hatte in ihrem Leben oft gefroren, vor allem während ihrer Kindheit

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