Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
an sie, jeder Schritt musste schrecklich schmerzen. Aber noch schmerzhafter wäre es, zu fallen und sich sämtliche Knochen zu brechen, und gar tödlich, in die Hände von Taurin oder Thure zu geraten. So verhielt Runa das Pferd erst, als sich die Bäume lichteten.
Zögernd drehte sie sich um und hielt Ausschau nach Verfolgern - weit und breit war nichts zu hören und zu sehen. Runa zerrte ungeduldig an der Mähne des Tieres, und dieses wieherte und begann zu traben. Gisla hielt ihre Hüfte fest umklammert, und so ritten sie den ganzen Tag. Die Furcht, vom Pferd zu fallen, weil es erneut in Panik geriet und durchging, blieb - die Furcht hingegen, dass ihnen die Feinde dicht auf den Fersen waren, ließ langsam nach.
Selbst Gisla beruhigte sich, hörte zu keuchen auf und fragte plötzlich etwas.
Runa zuckte die Schultern, da sie nur ein Wort verstanden hatte - Loki. Aber aus Gislas nächsten Worten hörte sie wieder Lokis Namen heraus, und ihr fiel ein, dass Thure von Loki gesprochen hatte.
»Loki war der verrückteste aller Götter«, murmelte sie.
Sie glaubte nicht, dass Gisla sie verstand; zu den Worten, die sie gelernt hatte, gehörten die für Wald und Feuer, nicht für Götter und Wahnsinn. Wobei - Loki war auch der Gott des Feuers. Und darüber hinaus war er listig und verlogen und bösartig und gefährlich.
Ja, ging ihr auf, keine Gottheit konnte Thure mehr gefallen als diese eine, die nicht nur von Göttern abstammte, sondern von Riesen, und die von jenen die Vorliebe, Unheil zu stiften, im Blut hatte. Manchmal biederte sich Loki bei den Göttern an, schloss gar Blutsbrüderschaft mit Odin, doch in der Ragnarök, der Sage vom Untergang der Götter, schlug er sich auf die Seite der Mächte des Chaos, die die Welt versinken und nichts übrig ließen als die große Leere, Ginnungagap - gleiche Leere, aus der die Welt hervorgegangen war.
Loki glich Thure. Ein Verleumder der Götter war er, ein Vater der Lügen, ein Feigling, jedoch auch voller Witz und beißendem Humor. Er bedachte die Götter mit Schimpfworten, brüstete sich, ihre Frauen zu verführen, und spielte ihnen Streiche. Manchmal nahm er die Gestalt von Tieren an. Als Runa nun an Thure dachte, stellte sie sich ihn als einen Raubvogel vor, der lange über seinen Opfern kreist, ehe er plötzlich daraufstürzt.
Sie hob den Blick. Bleich stand der Himmel; kein Raubvogel kreiste über ihnen, und vielleicht war Thure schon tot, von Taurins Schwert getroffen. Gewiss konnte sie sich dessen aber nicht sein, solange sie nicht mit eigenen Augen seinen Leichnam sah, fürchtete sie sich vor ihm. Und sie hasste ihn.
Sie ritten in den Abend hinein, schließlich in die Nacht. Als es vollkommen finster war, blieb das Pferd stehen und spuckte weißen Schaum. Runa saß ab, reichte Gisla die Hand und zog auch sie herunter, zweifelnd, ob sie es je wieder auf den Rücken des Tieres schaffen würden, wenn sie nicht von Panik getrieben und jene Panik nicht von Taurin ausgelöst wurde. Kurz glaubte sie den Blick seiner leeren und gleichzeitig traurigen Augen erneut zu fühlen, die Berührung seines Körpers, so kräftig wie ihrer, so sehnig ... so geschunden von einem harten Leben, und dachte, was sie schon im Kerker zu Rouen gedacht hatte: Er war ein Feind, aber ein ebenbürtiger und würdiger.
Das Schnauben des Pferdes riss Runa aus ihren Gedanken. Es spuckte noch mehr Schaum und rollte mit den Augen, und sie fragte sich, ob es am kommenden Morgen noch leben und ob sie je wieder auf ihm zu reiten wagen würde. Das letzte Mal war sie als kleines Kind auf einem Pferd geritten, doch in Norvegur waren die Pferde halb so groß und konnten nicht galoppieren, nur trittsicher die gefährlichen Sümpfe überqueren.
Das Pferd begann gemächlich zu grasen. Die dunklen Augen standen nun still, wirkten nicht länger wahnsinnig, nur erschöpft ... und traurig ... traurig wie die Taurins.
Traurig wie auch ihre?
Runa wandte sich ab. Gisla war auf den Boden gesunken, hatte wie schon so oft die Knie an sich herangezogen und den Kopf daraufgelegt. Sie wippte vor und zurück, weinte erst und summte dann - summte wieder jene Melodie, die Runa so aufgebracht hatte. Die Klänge hatten sie an die Flöte erinnert, die einer der Männer ihres Vaters einst gespielt hatte, und an die Abende, da sie rund um das Herdfeuer gesessen hatten, zuhause und geborgen. Zwischen Runolfr und Asrun hatte noch Frieden geherrscht, ihr Vater hatte sie gewiegt und geherzt, und die Welt war ein heimeliger,
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