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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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warmer Ort gewesen.
    Es war so unerträglich wie beim ersten Mal, den Singsang zu hören und die Erinnerungen zu ertragen, doch diesmal schlug Runa Gisla nicht. Sie ließ sie weitersingen. Und nachdem sie notdürftig ihre Blessuren versorgt hatte, setzte sie sich an ihre Seite, spürte, wie auch ihr Tränen in die Augen stiegen, vor Erschöpfung und vor Heimweh. Sie ließ es zu, dass sie über ihre Wangen perlten. Besser ist es, Augen zu haben, die Tränen spucken, dachte sie, als leere, traurige, tote Augen wie Taurin.
    So erleichtert Gisla gewesen war, endlich vom Pferd steigen zu dürfen - am nächsten Morgen wehrte sie sich nicht, als Runa sie aufforderte, wieder aufzusitzen. Die stete Angst zu fallen erschien ihr als gerechter Preis dafür, nicht selbst gehen zu müssen, und während sie am Tag zuvor nur darauf bedacht gewesen war, sich an Runa festzuklammern, gewöhnte sie sich nun daran zu reiten und blickte sich erstmals um. Der Wald lag ein gutes Stück zurück, und der Himmel stand zwar grau über ihnen, aber nicht länger von einem Blätterdach verdunkelt. Sie legte den Kopf in den Nacken, sah schwarze Vögel das Grau durchpflügen und vermeinte kurz selbst zu fliegen, ganz ohne Last und Furcht. Sie dachte an ihre Mutter, an ihr unbeschwertes Leben daheim, und ihr wurde warm ums Herz.
    Als Gisla nach einer Weile den Kopf wieder senkte, war die Welt nicht länger grau, sondern bunt. Wiesen, Hügel und Felder umgaben sie, deren Farben zwar matt, aber vielfältig waren: Da gab es helles Grün, verwaschenes Braun, herbstliches Gelb. Sie erfreute sich daran, dann ging ihr auf, dass die Welt außerhalb des Waldes nicht nur farbenfroher war und ungleich mehr Freiheit verhieß, sondern dass mit der Weite die Gefahr wuchs, schon aus der Ferne erkannt zu werden. Stur richtete sie fortan den Blick auf Runas Haar, um nicht bangend nach Verfolgern Ausschau halten zu müssen.
    Gegen Mittag legten sie eine kurze Rast ein, und wie am Vortag sprang Runa als Erste wendig vom Pferderücken und hielt ihr die Hand hin. Gisla ergriff sie nur zögernd. Sie kam nicht umhin, sich an Runa festzuklammern, solange sie auf dem Pferd saßen, doch sie konnte ihre Hände nicht betrachten, ohne sich vor Augen zu rufen, wie diese Hände ein Messer in den Leib eines Mannes gestoßen hatten und jener reglos niedergesunken war. Ob er tatsächlich tot war oder nur schwer verwundet, wusste sie nicht - aber sie nahm an, dass es Runa nichts ausmachte, zu töten, und es graute Gisla vor ihr.
    Eben blickte sich Runa um, weniger von der Furcht vor Verfolgern getrieben, als von der Hoffnung, jemanden zu sehen, den sie nach dem Weg fragen könnten. Niemand war auszumachen, und Gisla war erleichtert: Weil da keiner war, der sie töten konnte. Und noch mehr, weil da keiner war, den Runa töten konnte.
    Der Wind fuhr in die Mähne des Pferdes, es wieherte leise, und nach einer Weile ließ Runa es los, auf dass das Tier die Richtung bestimmen möge. Das Pferd wusste natürlich nicht, dass sie nach Laon wollten und wie man dorthin kam, aber es suchte den trittsichersten Weg, und die beiden jungen Frauen folgten ihm eine Weile zu Fuß, um das Tier nicht zu erschöpfen. Sie kamen an Wiesen vorbei und an Sümpfen, sahen, wie der schmale Weg breiter wurde und der breite Weg zu einer Straße. Immer noch war niemand zu sehen, aber Spuren von Wagenrädern und Hufen verrieten, dass hier vor kurzem jemand entlanggekommen sein musste. Gisla fiel ein, dass Laon ein Knotenpunkt war und nahezu alle Straßen dorthin führten, so vielleicht auch diese, und ihre Hoffnung wuchs.
    Als der Wind kälter wehte, kamen sie an einer Baumgruppe vorbei, kletterten auf die unteren Äste und stiegen von dort wieder aufs Pferd, dessen verschwitzter Leib sie wenigstens ein wenig wärmte.
    Der Himmel blieb grau, das Land menschenleer und die beiden Frau stumm. Nur das Klappern der Hufe war zu hören und manchmal ein erschöpftes Schnauben des Tieres. Was Runa davon abhielt, mit ihr zu reden und solcherart noch mehr Wörter ihrer Sprache zu lernen, wusste Gisla nicht - sie war nur froh über das Schweigen und hoffte, es möge ein Zeichen sein, dass die Tötung eines Menschen nicht spurlos an ihrer Begleiterin vorüberging, sondern ihr zu schaffen machte.
    Während der abendlichen Rast - sie machten kein Feuer, um mögliche Verfolger nicht auf sich aufmerksam zu machen, sondern aßen nur Nüsse und die letzten Beeren, die sie am Wegrand fanden - griff Runa wieder zu ihrem Messer. Gisla

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