Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
beobachtete entsetzt, wie sie ihre Treffsicherheit schulte. War das lange Schweigen womöglich nicht Zeichen der Reue, getötet zu haben, sondern vielmehr des Bedauerns, nicht mehr Männer getroffen zu haben? Übte sie, um künftig wieder und wieder, vor allem aber noch besser töten zu können?
    »Wie kannst du nur?«, entfuhr es ihr.
    Runa schien ihre empörte Frage falsch zu verstehen, glaubte offenbar, dass das, was sie konnte, auch Gisla können wollte, und hielt ihr das Messer auffordernd hin.
    Gisla hob abwehrend die Hände. »Jemanden zu töten führt geradewegs ins Verderben!«, rief sie schrill. »Eine Todsünde ist es, genauso wie die Ehe zu brechen und vom Glauben abzufallen.«
    Runa starrte sie verständnislos an. Ob es in ihrer Sprache auch ein Wort für Todsünde gab - oder nur für Tod und nicht für Sünde?
    Doch wenn sie auch nicht verstand, woher Gislas Empörung rührte, war diese ihr nunmehr so deutlich anzusehen, dass Runa ihr das Messer nicht länger vors Gesicht hielt, sondern nur mit den Schultern zuckte.
    »Wir oder die anderen«, murmelte sie und begann erneut zu üben.
    Gisla wandte sich ab, doch wenn sie die Waffe auch nicht länger sehen musste, so musste sie doch den dumpfen Laut vernehmen, den das Messer verursachte, als es im Stamm stecken blieb.
    »Deus Caritas est«, seufzte sie tief und verschränkte ihre Hände zum Gebet.
    Ja, der Gott, an den sie glaubte, war die Liebe - und er war sogar noch mehr: Gott war Stille und Sauberkeit und Frieden und Weltabgeschiedenheit. Ihr Herz verkrampfte sich. Sie sehnte sich nach ihrer weichen Bettstatt in Laon, sie sehnte sich nach der Kapelle mit den bunten Glasfenstern, sie sehnte sich nach einer Welt, in der keine Messer geschleudert wurden. Oh, wenn wir nur endlich Laon erreichen würden, flehte sie innerlich. Wenn sie ins Kloster eintreten könnte, so wie ihre Mutter es im Sinn hatte! Wenn nur endlich diese grässlichen Tage vorübergehen und sämtliche Erinnerungen verblassen würden - nicht nur daran, dass sie gefroren und gehungert, sondern dass sie gesehen hatte, wie Menschen getötet wurden.
    Das Nachlassen des einen Schmerzes musste durch einen neuen erkauft werden: Seit sie auf dem Pferd ritten, taten Gisla abends nicht mehr die Füße so weh, stattdessen wurde sie von Rückenschmerzen gepeinigt, die immer dann am schlimmsten waren, wenn sie vom Pferd stiegen. Sie war sich nicht sicher, ob sie vom Ritt selbst rührten oder von ihrer Angst, vom Pferd zu fallen. Runa schien von gleicher Angst getrieben, so steif und verkrampft wie sie saß, und wenn das die eigene nicht erträglicher machte, so stimmte es Gisla doch erleichtert, dass diese Frau, trotz allem, was dem widersprach - die raue Stimme, der Eifer beim Messerwerfen, der harte Körper - ein Mensch mit menschlichen Gefühlen war.
    Als die Nächte kälter wurden, schlief sie wieder dicht an sie gepresst, doch die Nächte währten nie lange, und Runa weckte sie schon vor dem Morgengrauen. Am liebsten wäre sie wohl die Nacht hindurchgeritten, um noch mehr Distanz zwischen sich und mögliche Verfolger zu bringen, kam aber nicht umhin, dem Pferd Schonung zu gewähren. Dieses wurde trotzdem immer langsamer, weil es nichts Ordentliches zu fressen bekam, nur Gräser und Laub und dann und wann ein paar Früchte.
    Gisla und Runa erging es ähnlich. Ständig peinigte sie der Hunger, und sie wurden immer schwächer. Nach der vierten Nacht schlug Runa vor, das Tier zu töten und das Fleisch zu essen. Sie glaubte, sie würden schneller vorankommen, wenn sie gekräftigt und gesättigt zu Fuß liefen, als wenn sie Hunger litten. Da Runa noch nicht viele Worte der fränkischen Sprache gelernt hatte, dachte Gisla erst, sie habe ihr Ansinnen falsch verstanden, als aber Runa die Geste wiederholte, wonach sie den Hals des Tieres durchschneiden wollte, schüttelte sie entsetzt den Kopf. Mit Grauen dachte sie an neues Blutvergießen. Was Runa letztlich von ihrem Vorhaben abbrachte, war nicht Gislas Empörung, sondern die Überlegung, dass sie nicht so viel Fleisch auf einmal verzehren, zugleich aber auch nicht tragen könnten. Es zurückzulassen bedeutete jedoch eine Verschwendung, die undenkbar war.
    So ritten sie weiter, bis sie auf ein Hindernis stießen. Schon von ferne hörten sie das Rauschen des breiten Flusses, der fast über sein Bett schwappte und nicht nur Treibholz, sondern auch welke Blätter mit sich trug. Das Pferd wieherte ängstlich und wich zurück.
    Gislas Scheu vor dem reißenden

Weitere Kostenlose Bücher