Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
warten möge. Die Schwestern, vom grässlichen Lärm nicht minder erschrocken als sie, blickten ihr bereits angstvoll entgegen. Vermutungen, wer die Männer wären, die das Kloster heimsuchten, wurden wild durcheinandergerufen. Die Subpriorin versuchte sie zu beruhigen, doch kam mit ihren mahnenden Worten kaum gegen das aufgeregte Geschrei an. Erst als die Äbtissin den Raum betrat, verstummte es kurz.
Angst- und hoffnungsvoll zugleich richteten sich die Blicke auf sie. Ganz gleich, ob sie ihr Amt eben noch niederlegen wollte oder nicht - in der Stunde der höchsten Not war sie ihrer aller Mutter.
Die Subpriorin richtete als Erste das Wort an sie. »Wer ... wer ist da draußen?«, fragte sie.
Die Äbtissin fühlte, wie ihre Lippen zitterten. Sie hatte so viele Feinde gehabt - und all diese wären fähig und willens, auch Arvids Leben zu bedrohen. Der ersten Regung folgend zuckte sie mit den Schultern - ein Fehler, wie sich zeigte, denn dass sie keine Antwort auf die Frage wusste, ließ alle Dämme brechen.
»Sind es Heiden aus dem Norden?«, schrie Mathilda und sprang auf.
Das Geschrei der Nonnen übertönte fast die Schläge ans Tor. Laut zitierte die Magistra den Propheten Jeremia: Unheil und Zerstörung kündigte jener an - von einem Volk gebracht, das aus dem Norden käme.
Eine andere erging sich in Schimpfworten. »Verfluchte Seeräuberbande!«, tobte sie. »Schlangenbrut!«
Wieder eine andere behauptete, dass sie vom Unheil geahnt habe, das ihnen allen bevorstehe. Ihre finsteren Träume hätten es angekündigt - Träume von Flammen, die nicht nur über dem Land, sondern auch über dem Meer wüteten und die die Form eines Drachen annähmen, von einem Kometen und von Wirbelstürmen - alles Zeichen, die auf die Heiden aus dem Norden hinwiesen.
Die Schwester Cellerarin dachte nüchtern wie stets. »Wenn es tatsächlich Heiden aus dem Norden sind, müssen wir unser Vermögen verstecken. Die Heiden haben es doch darauf abgesehen - auf die Edelsteine, die die Tabernakel zieren, auf die kostbaren Einbände unserer Bücher, auf die Gewänder.«
Sie blickte bestürzt auf ihren Habit herab, als drohte man ihn ihr schon vom Leib zu reißen, obwohl er vom Kochen befleckt und aus einfachstem Stoff war.
Die Subpriorin schüttelte den Kopf. »Das Kloster ist ein heiliger Ort«, versuchte sie zu beruhigen, »ich habe schon oft gehört, dass sich der Boden auftat und die Heiden verschluckte, wenn sie geweihte Erde betraten.«
Jetzt meldete sich Mathilda zu Wort. »Das mag sein. Aber ich habe auch gehört, dass einmal die Heiden während einer Messfeier in eine Kirche einfielen. Der Geistliche war gerade dabei, die Worte sursum corda, Erhebet die Herzen, zu sprechen, als die Türen aufgebrochen wurden. Man hat ihn mit einem Rinderknochen erschlagen - und die Gläubigen mit Schwertern.«
Wieder ging Geschrei los, diesmal wild durcheinander. Dann plötzlich ertönte ein lautes Klatschen und ließ sie alle zusammenzucken.
Die Äbtissin schlug die Hände zusammen und rief nun laut: »Ruhe!«
Es war so selbstverständlich, das Amt wieder an sich zu reißen. Und so selbstverständlich, dass die Nonnen ihr gehorchten.
Doch nun, da wieder alle schwiegen, waren die Schläge an das Tor umso lauter zu hören. Noch zerbarst das Holz nicht, aber die Äbtissin war sich nicht sicher, wie lange es den wütenden Fausthieben standhalten würde.
»Ruhe!«, wiederholte sie, ohne sich die Ängste anmerken zu lassen. »Hier sind wir in Sicherheit! Gewiss, manchmal kommen noch Heiden aus dem Norden, aber wir dürfen nicht vergessen: Wir leben in einem Land, in dem die meisten dieser Heiden längst christlich geworden sind. Falls neue Banden aus dem Norden kommen, wird jemand zu unserer Hilfe herbeieilen. Graf Wilhelm, Rollos Sohn, wird uns schützen, so wie er und sein Vater allen Klöstern Schutz versprochen haben.«
Die Schwestern blieben misstrauisch - zu widersprechen aber wagte keine von ihnen.
»Geht in die Kirche!«, befahl die Äbtissin. »Dort wollen wir beten - um die Hilfe des Grafen und um die Hilfe Gottes.«
Die Ordensfrauen gehorchten, ein anderer ließ sich jedoch nicht so leicht beschwichtigen. Als sie vom Refektorium ins Freie trat, traf die Äbtissin auf Arvid, kreidebleich im Gesicht und mit schmerzverzerrten Zügen. Er hielt sich die Brust. Seine Wunde schien zu nässen.
Sie wartete, bis die Nonnen an ihr vorbei zur Kapelle gegangen waren, dann legte sie ihre Hand auf seine Schultern, hoffend, dass er in der
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