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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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hatte keine Wahl. Nur eins war noch schlimmer, als ohne Besitz durch die Fremde zu eilen, zu hungern und zu frieren, von Feinden verfolgt, die ihr nach dem Leben trachteten - dies alles allein durchzustehen.
    Sie hatten mehr Zeit als beim letzten Mal, eine gangbare Furt zu suchen: Weder lag ihnen ein wieherndes Pferd im Ohr noch das Zischen von Pfeilen. Das Wasser war dennoch genauso kalt und genauso reißend; selbst an der seichtesten Stelle versanken sie bis zur Hüfte darin. Obwohl Runa zuvor hart zwischen Mein und Dein unterschieden hatte, war sie bereit, Gisla zu helfen, reichte ihr nicht nur die Hand, sondern zog ihren Körper ganz fest an ihren. Und trotz der glitschigen Steine und des weichen Schlamms unter ihren Füßen fand Gisla genug Halt, um nicht auszurutschen und von den Fluten mitgerissen zu werden. Schritt um Schritt kamen sie weiter, und als sie das andere Ufer erreicht hatten und Runa sie losließ, ging Gisla auf, dass sie in all den Wochen stärker geworden sein musste und widerstandsfähiger gegenüber der Kälte. Sonderlich dankbar war sie für dieses Vermögen nicht. Als sie auf das Frankenland zurückblickte, überkam sie Wehmut.
    Sie würde nie wieder heimkehren können. Und sie würde nie wieder dieselbe sein könnten - die umsorgte Gisla, die Gisla, die die Menschen mit ihrem hellen Gesang erfreute, die zurückgezogen lebte und die zu den wenigen, die ihr Gesellschaft leisteten, gut sein wollte.
    Sie gingen weiter, obwohl die nasse Kleidung an ihren Körpern klebte. Der Kleidung konnte sich Gisla nicht entledigen - aber der Gedanken, die in ihrem Kopf kreisten. Sie sprach sie aus und hoffte, sie dadurch zu vertreiben.
    »Wohin soll ich jetzt?«, stammelte sie. »Wir können doch nicht ewig so weiterziehen. Es gibt doch auch im Nordmännerland Klöster; Rollo hat meinem Vater zugesagt, sie wiederaufzubauen. Vielleicht kann ich in einem leben. Oder vielleicht sollten wir zurück nach Rouen gehen. Ich muss doch Aegidia warnen. Ich könnte auch wieder ihre Dienerin sein ...«
    Sie brach ab, denn sie wusste, dass sie das nicht konnte. Selbst wenn Aegidia noch lebte, würde sie nicht zu ihr vorgelassen werden. Und selbst wenn es im Nordmännerland Klöster gab, die nicht in Trümmern lagen, würde Runa nicht bereit sein, ein solches zu suchen. Sie schwieg zwar zu Gislas verworrener Rede, aber erklärte schließlich erneut, dass jede von ihnen selbst über ihre Zukunft entscheiden müsste.
    »Aber du?«, fragte Gisla. »Was willst du denn jetzt machen? Wohin willst du gehen?«
    Runa antwortete mit einem schlichten Wort: »Norvegur.«
    Gislas Mut sank. Offenbar wollte Runa immer noch heimkehren, notfalls auch ohne ihre Unterstützung.
    »Und ich?«, fragte sie.
    »Du ... mitkommen ... oder bleiben«, erwiderte Runa.
    Gisla blieb stehen; die Kleidung war vom Wind getrocknet, aber ihr war immer noch kalt. »Was soll ich denn in einem fremden Land?«, rief sie klagend.
    Erst als sie die Frage gestellt hatte, ging ihr auf, dass jedes Land nun für sie ein fremdes war und sie in jedem Land eine Fremde.
    Runa blieb stehen, trat auf sie zu und nahm ihre Hände. »In Norvegur ... niemand kennt dich ... niemand ahnt, dass du Rollos Frau ...«
    Gisla wich Runas Blick aus, aber sie entzog ihr die Hände nicht, sondern nickte.
    In den nächsten Tagen gab Gisla vor, dass sie sich noch nicht entschieden hatte, was sie tun würde. Aber fortan beherrschte nicht nur Runa ihre Sprache immer flüssiger, sondern auch Gisla die des Nordens.
    Jeden Morgen war es ein wenig kälter als am Tag zuvor, und jedes Mal, wenn sie erwachten, lagen sie unter einem Berg Blätter, die in der Nacht auf sie herabgeregnet waren. Die Äste der Bäume, unter deren Dach sie sich betteten, ragten trostlos wie schwarze verdorrte Arme in den Wind. Über den Blättern, die im matten Morgenlicht nicht golden, sondern von einem laschen, faulig anmutenden Braun waren, lag meist eine Schicht Raureif. Sie glitzerte silbrig, wenn sich Sonnenstrahlen durch den Dunst stahlen, oder blieb schmutzig grau, wenn eine Wolkendecke die Sonne verdeckte. Ganz gleich nun aber, ob er hässlich oder schön anzusehen war - in jedem Fall verhieß der Raureif Winter. Im Winter würde sie, Runa, nicht nach Norvegur zurückkehren können. Und im Winter würde Gisla kaum das harte Leben im Wald überstehen.
    Bis jetzt aber, das musste Runa anerkennen, hielt sie sich beachtlich. Wehklagen oder stumpfsinniges Geschluchze blieben aus. Gisla öffnete nur den Mund, um die

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