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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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fränkische oder nordische Sprache zu lehren oder zu lernen, und sie stellte sich - auch das musste Runa ihr zugutehalten - ungleich begabter an.
    Natürlich nutzte es wenig, eine Sprache zu beherrschen, wenn man auf keine Menschen stieß, mit denen man sich austauschen konnte, und zu Beginn ihrer Flucht war Runa darüber erleichtert gewesen. Niemandem zu begegnen hieß, von niemandem verfolgt zu werden. Doch mit der Zeit begann sie immer sehnsüchtiger nach menschlichen Spuren Ausschau zu halten - nach einem leeren Gehöft, in dem sie überwintern könnten, oder nach einem bewohnten, in dem sie um Essen betteln konnten, aber sie begegneten niemandem, weder auf den ausgetretenen Wegen noch auf den Feldern, noch fanden sie eine Siedlung.
    Trotzdem fühlte sich Runa ständig belauert. Unsichtbare Geschöpfe schienen den Wald zu bevölkern und ihre Augen auf sie zu richten. In ihrem Nacken kribbelte es, jedes ungewohnte Geräusch ließ sie zusammenzucken, und das Unbehagen wuchs, obwohl sie sich einredete, dass ihren überreizten Sinnen nicht immer zu trauen war. Das Gefühl der Bedrohung wuchs einer Schlinge gleich, die sich immer fester um ihren Hals zusammenzog.
    Runa vertraute Gisla ihre Ängste nicht an und sprach weder Thures noch Taurins Namen jemals aus, aber sie ließ sie nur selten allein, um zu jagen - obwohl sie gerade in diesen Tagen, da die Früchte des Waldes unter dem Herbstlaub verrotteten, das Fleisch bitter nötig gehabt hätten. Der Hunger tat weh - und stimmte sie ärgerlich. Manchmal ärgerte sie sich auch über Gisla, weil diese sich weigerte, mit dem Messer werfen zu üben. Manchmal ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie nicht versuchte, sie einfach loszuwerden. Gesetzt, sie wurden tatsächlich von Feinden beobachtet, und gesetzt, diese schlügen zu, so würde sie viel leichter fliehen können, wenn sie nicht auf das zarte Mädchen Rücksicht zu nehmen hatte.
    Dann wiederum sagte Runa sich, dass es zwar lästig war, sich um Gisla sorgen und das eigene Tempo zügeln zu müssen, aber zugleich eine Wohltat. Mit ihr zu reden, mit ihr zu schlafen, ja selbst das karge Essen mit ihr zu teilen, das alles war ein Beweis dafür, dass sie - wenn die Welt auch kalt und farblos geworden war - noch im Reich der Lebenden weilte, nicht in dem der Toten, in dem man nur Geister traf. Und in einer Sache war Gisla sogar sehr nützlich: Ihr Gehör war besser als ihres. Nicht nur, dass sie schneller ihre Sprache lernte - obendrein vernahm sie früher als sie ungewöhnliche Geräusche, machte noch auf das leiseste Rascheln aufmerksam und konnte darob rechtzeitig vor Schritten und Pferdegetrappel warnen. Dies milderte das Gefühl der stetigen Bedrohung und gab Runa genügend Sicherheit, um jeden Abend Schlaf zu finden.
    Eines Tages erwies sich nicht nur Gislas Gehör als das bessere - sie sah auch den aufsteigenden Rauch als Erste. Dicht standen Gebüsch und Farn, dahinter erstreckten sich eine Wiese und ein Feld. Und hinter dem Feld ragte ein einsames Gehöft vor ihnen auf.
    Es hatte wohl noch einen Vorteil, mit Gisla unterwegs zu sein: Eine zarte junge Frau mit blonden, wenn auch verfilzten und verschmutzten Haaren war vertrauenswürdiger als ein sehniges, knöchernes Weib mit raspelkurzen schwarzen. Die Bäuerin, die auf ihr Klopfen hin die Tür öffnete, starrte nur Gisla an, nicht Runa, und obwohl ihre Augen weit aufgerissen waren, der Blick gehetzt, der Körper ausgemergelt und die Lippen so trocken, dass sich kleine farblose Hautfetzen davon lösten, schien sie erleichtert, dass nur diese beiden Frauen vor dem Haus standen, kein Mann, und dass eine von ihnen Fränkisch sprach.
    Als Gisla um Essen bat und darum, eine Nacht in der warmen Stube verbringen zu dürfen, trat sie zurück und ließ sie, ohne zu zaudern, eintreten.
    Gisla fiel fast über die Schwelle, so hastig drängte es sie ins warme Haus. Runa hingegen zögerte. Sie hatte schon viel erlebt in all der Zeit, die sie in diesem fremden Land zubrachte, aber noch nie, dass irgendjemand freiwillig Essen abtrat. Wieder spürte sie jenes Kribbeln in ihrem Nacken und rechnete damit, dass hinter der vermeintlichen Freundlichkeit womöglich eine List steckte. Dann aber stieg ihr ein köstlicher Geruch in die Nase, und der Hunger vertrieb das Unbehagen; er machte sie blind für alle Gefahren.
    Runa musste sich beherrschen, um nicht auf den Kessel loszustürzen, der über der Feuerstelle hing, ihn nicht von der Kette zu reißen und seinen Inhalt in sich

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