Tochter des Ratsherrn
andere und stierte zu Boden.
Agnes stutzte. Plötzlich wurde ihr klar, warum Johanna so steif vor ihr stand. »Herrgott noch mal, Johanna. Du brauchst dich vor mir doch nicht zu schämen.« Sie hob das Kinn der Magd an und blickte ihr in die Augen. Agnes mochte die schüchterne Johanna sehr. »Wir sind doch Freundinnen, oder etwa nicht?«
Johannes geriet immer mehr in Bedrängnis. Ja, sie waren Freundinnen geworden; umso schwerer musste es daher für Agnes sein zu begreifen, warum er sich auf einmal so seltsam benahm.
Agnes’ Züge wurden weich. »Schämst du dich vielleicht wegen all der Lästereien der anderen Mägde?«
In seiner Not nickte Johannes.
Agnes fasste ihn freundschaftlich am Arm. »Bist du schon einmal zurückgestoßen worden? Ich meine … von einem Jungen?«
Johannes wich einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände.
Die Magd begriff sofort. »Aber nicht doch, das meinte ich nicht. Bitte verstehe mich nicht falsch, Johanna. Ich weiß, dass du tugendhaft bist«, berichtigte sich Agnes sogleich. »Du bist nur so anders als die anderen Mägde. Alle, die ich kenne, haben hier und da schon einmal für einen Knecht oder einen Boten geschwärmt. Sie reden doch über fast nichts anderes, wenn wir mit ihnen am Fluss Wäsche waschen. Nur du scheinst dich für keinen der Jungen zu interessieren.«
Wieder senkte Johannes den Kopf. Wenn Agnes nur wüsste, wie richtig sie damit lag! Natürlich hatte er sich noch niemals für einen Jungen interessiert – schließlich war er selbst ein Mann. Doch woher sollte sie wissen, dass es die Mädchen waren, denen er heimlich hinterherschaute? Ja, woher sollte sie wissen, dass sie selbst es war, der sein Herz schon lange gehörte!
»Ach, Johanna, ich wünschte, du könntest sprechen. Ich bin mir sicher, wir hätten uns viel zu erzählen. Wenn du dich schämst, dann werde ich mich einfach umdrehen.« Sie reichte ihm das Kleid und wandte ihm den Rücken zu.
Johannes war überaus erleichtert, so glimpflich aus seiner misslichen Lage herausgekommen zu sein. Nun hieß es nur noch, geschickt das alte Gewand abzustreifen und das andere samt der falschen Brüste aus Leinenknäueln überzuziehen.
Agnes wollte es eigentlich nicht tun, doch ihre Neugier überwog. Während sie beide mit dem Rücken zueinander standen, wagte sie es, einen verstohlenen Blick auf Johanna zu werfen. Sie wollte wissen, was die Magd so dringend zu verbergen versuchte, und sie erkannte es sofort. Johanna sah ohne Kleidung noch weit hässlicher aus als mit. Die Magd konnte durchaus verstehen, warum ihre Freundin so schüchtern war. Ihrem Körper fehlten sämtliche weichen Rundungen, die die Männer so verrückt werden ließen, ihr Rücken war knochig, ihr Hintern flach, und sie hatte dürre Beine mit buschigem Haar daran. Agnes konnte Johannas Scham gut verstehen, schon von hinten war ihr Anblick grauenhaft; wie schlimm mochte es dann wohl von vorne sein?
Agnes überkam großes Mitleid. Seit Johanna im Hause von Sandstedt arbeitete, hatte sie wegen ihrer Hässlichkeit viele Schmähungen der anderen Mägde über sich ergehen lassen müssen. Agnes hatte sie stets verteidigt, auch wenn sie bis dahin nicht gewusst hatte, wie dringend nötig das war.
Seit ihrer Verbrühung hatte Agnes sich selbst hässlich und entstellt gefühlt, doch nun, da sie sah, wie es um Johanna bestellt war, überkam sie ein Gefühl tiefer Demut. Ihre Freundin hatte es weit schlimmer getroffen als sie; hatte Agnes doch zumindest ein hübsches Gesicht. Und so ermahnte sie sich, in Zukunft dankbarer zu sein und nicht mehr mit sich und ihren Verletzungen zu hadern. Schließlich hatte Gott in seiner Herrlichkeit jeden unter ihnen anders erschaffen, und wer war sie schon, dass es ihr zustand, diese Herrlichkeit anzuzweifeln?
Das Klagen und Weinen der Frauen aus dem Handarbeitsraum wurde allmählich leiser, bis es irgendwann vollkommen verstummte.
Vater Everard schickte ein kurzes Dankgebet gen Himmel. Frauen waren eines der Wunder Gottes, die er nicht verstand. Ihre schrillen Stimmen bereiteten ihm Kopfschmerzen, und ihr Anblick verwirrte ihn. Schon immer hatte er sich in ihrer Gegenwart unwohl gefühlt; Frauen bescherten stets Unbill – und das bereits seit dem Paradies.
Am liebsten waren ihm die Weiber noch, wenn sie allzeit stumm und gehorsam blieben. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er Johanna erwählt hatte, ihm zu helfen. Schnell hatte er bemerkt, dass er hier in der Familie seines Ziehsohns nicht
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