Tochter des Ratsherrn
nach vierzehn Lenzen wieder zusammenführen. Die Jahre darauf waren die glücklichsten, die sie je verleben durften. Albert wurde mit seinem Holzhandel zu einem vermögenden Mann, und die Familie lebte ohne Sorge.
Albert lächelte gedankenversunken, doch langsam verblassten die Bilder vor seinen Augen. Seine Kraft war verbraucht. Fast schon verwirrt fragte er sich, ob seine Erinnerungen und der gegenwärtige Moment wirklich ein und demselben Leben entstammten. Wie war es nur dazu gekommen, dass er so plötzlich alles verloren hatte? Was war noch übrig von diesen wunderbaren Jahren? War dies der Preis für all sein Glück? Musste er nun tatsächlich dafür bezahlen, unter seinem Stand geheiratet und somit gegen die gottgewollte Ordnung verstoßen zu haben? Albert konnte und wollte das nicht glauben. Eine so wunderbare Liebe musste von Gott selbst zusammengeführt worden sein! Nein, Albert bereute keinen einzigen Tag mit Ragnhild.
Ein Geräusch ließ Albert aufschauen. Es kam von einem kleinen Vogel, der mit seinem flatternden Flügelschlag die schwermütigen Gedanken in Alberts Kopf verscheuchte. Wie selbstverständlich war er zu Alberts Luke geflogen und hatte sich auf das eiserne Kreuz gesetzt, welches die kleine Öffnung versperrte. Er öffnete das Schnäbelchen und sang sein liebliches Lied, dass sein winziger Brustkorb erbebte. Sein Gezwitscher klang wie der Gesang von Engeln und hallte laut in Alberts Ohren wider, die seit Tagen kaum mehr einen Laut vernommen hatten. Dann, als er geendet hatte, breitete er die Flügel aus und flatterte davon.
Albert blieb wieder allein zurück, sein Kopf sank schwer auf seine Brust. Es war ihm, als hätte der Vogel alle Bilder von seiner Familie mit sich genommen. Sosehr Albert sich danach auch bemühte, es wollte ihm einfach nicht mehr gelingen, sich an die Gesichter seiner Lieben zu erinnern. Sein Kopf war leer.
Das war das Ende. Albert war sich sicher.
Mit letzter Kraft schlug er ein Kreuz und schloss darauf seine müden Augen.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.«
»Amen. Vergebt mir Vater, denn ich habe gesündigt.«
»Welche Sünde hast du begangen, die dir auf der Seele lastet, mein Kind?«
»Ich … ich habe mich der Sünde des … des Zorns schuldig gemacht«, antwortete Margareta in ihrer Verzweiflung. Sie wusste einfach nicht mehr, was sie sonst hätte sagen sollen. Jeden einzelnen Tag dieser Woche hatte Vater Everard sie nun zum Beichten aufgefordert, und täglich erwartete er scheinbar, dass sie eine neue Sünde beging. Dabei blieb ihr kaum Gelegenheit zum Sündigen, eingesperrt in den Mauern des von Holdenstedeschen Hauses und halb ohnmächtig vor Trauer um ihre aufgelöste Verlobung.
»So, du warst also zornig. Und auf wen bist du zornig gewesen?«
»Auf meinen ehemaligen Verlobten Hereward von Rokesberghe.«
»Was war der Grund für deinen Zorn?«
Margareta konnte sich nur mit großer Mühe zurückhalten, die Augen zu verdrehen. Was war denn das für eine Frage? Wollte Vater Everard sie quälen? Jedermann in Hamburg wusste, warum sie Zorn auf Hereward von Rokesberghe empfand – sicher auch der Geistliche. »Ich empfinde so, weil dieser Mann unsere vor Gott geschlossene Verlobung zu Unrecht aufgelöst hat.«
»Zu Unrecht?«, wiederholte der Priester ungläubig. »Wer bist du, Weib, dass du dir anmaßt zu entscheiden, ob die Auflösung rechtens war?«
Margareta hob verwirrt den Blick und schaute Vater Everard ins Gesicht. Sie hatte sich bemüht, ihre Antwort so zu wählen, dass er keinen Anstoß daran nehmen konnte, doch scheinbar war ihr das nicht gelungen. Der Geistliche war hörbar erbost.
»Aus welchem Grund hebst du den Blick? Kennst du keine Demut?«
Sofort ließ Margareta den Kopf wieder sinken. Die Augen des Kirchenmannes schienen sie zu durchbohren. In Ermangelung eines Beichtstuhls kniete sie mit vor der Brust gefalteten Händen vor ihm, der wiederum auf einem bequemen Sessel saß.
Der Handarbeitsraum war zu seiner privaten Kammer umgeräumt worden, die jede Spur von Enthaltsamkeit vermissen ließ. Man hatte ihm am hinteren Ende des Zimmers eine bequeme Bettstatt mit weichen Laken errichtet, davor standen ein stets glimmendes Kohlebecken und einer der alten Sessel ihrer Großmutter Mechthild aus der Stube. Es duftete fortwährend nach irgendwelchen Speisen, die Marga ihm bereiten sollte. Nur so
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