Tochter des Ratsherrn
Gesicht.
Runa schloss die Augen. Unter ihren Lidern quollen dicke Tränen hervor. »Du bist hier! Du hast mich nicht vergessen«, weinte sie bitterlich.
»Nein, o nein, wie kannst du das nur denken? Niemals könnte ich dich vergessen, mein Herz. Ich bin hier, hier bei dir.«
Runas Lippen formten das tonlose Wort Danke, doch es galt nicht Johann. Gott hatte sie doch erhört. Er hatte ihr jemanden geschickt – wenn auch nicht ihre Mutter oder ihren Gemahl, um die sie eigentlich gebeten hatte. Nie hätte sie es gewagt, in ihrer jetzigen Lage um Johann zu bitten. Zu liederlich und sündig wäre ihr dieser Wunsch erschienen. Doch vielleicht war es gerade die Sündhaftigkeit ihres Wunsches gewesen, die nicht Gott, sondern den Teufel gerufen hatte, der nun versuchte, sie in ihrer schwächsten Stunde mit ihrem größten Laster zu verführen.
Runa öffnete die Augen wieder und sah in das Gesicht des Mannes, der ihr all die Jahre des Nachts erschienen war. Nun kniete er leibhaftig neben ihr – kein Traum, keine Erinnerung, er war wirklich hier. Es war ihr gleich, wer ihn geschickt hatte – Gott oder der Teufel. Ihr Herz frohlockte. Wie von selbst legte sie ihre Hand auf seine Brust, genau so, wie sie es in seinem Wagen getan hatte. Wieder fühlte sie seinen Herzschlag und gleichzeitig ihre unsterbliche Liebe zu ihm.
Johann nahm seine Rechte und legte sie an ihre Wange. Mit seiner Linken umfasste er ihre Hand auf seiner Brust. Jetzt konnte er fühlen, dass sie seine Nähe ebenso wollte wie er ihre, und so verwarf er alle Gedanken an Sitte und Anstand und die an ihren Ehemann ebenfalls. Sanft zog er sie an seine starke Brust. Dann umschloss er ihren Körper mit seinen Armen und küsste ihre Stirn. Sein Leib bebte vor Verlangen, sein Herz raste. Das erste Mal seit sieben Jahren durfte er Runa berühren, sie halten, sie küssen. So furchtbar die Umstände auch waren – ihre Liebe ließ das alles für einen Augenblick in Vergessenheit geraten. Es zählte nur, dass sie einander nah waren. Hier unten, an diesem finsteren, unwirtlichen Ort, waren sie ungestört. Kein Platz der ganzen Stadt hätte ihnen das gerade bieten können, und so waren sie auf eine absurde Weise dankbar dafür.
Johanns Hände lösten sich von Runas Körper und umfassten ihr Gesicht. Sie wehrte sich nicht. Langsam näherte er seinen Mund dem ihren, bis ihre Lippen einander berührten. Sie küssten sich zaghaft und zärtlich, dann forscher und schließlich so leidenschaftlich, als wären sie wieder in der kleinen, windschiefen Hütte, in der alles begonnen hatte. All die aufgestauten Gefühle in ihren Herzen schienen sich in ihren Küssen zu entladen, bis sie endlich schwer atmend und schwitzend voneinander abließen. Sosehr sie den anderen auch begehrten, hier in dieser Zelle und in Runas Zustand war es für beide einfach undenkbar, sich zu lieben.
Aufgewühlt ließ sich Johann rücklings an die kalte Mauer sinken, während Runa ihren Kopf an seine Brust lehnte. Stumm lauschten sie beide dem Nachhall ihrer widerstreitenden Gefühle. Sie wussten, dass ihre gemeinsame Zeit begrenzt war, und trotz ihrer Liebe und der Freude über ihr Wiedersehen weinte Runa ohne Unterlass.
Johann streichelte ihr tröstend übers Haar und wischte ihre Tränen fort, doch wahren Trost konnte es nicht geben.
»Wieso bist du hier, Johann? Alle halten mich für eine Hexe. Und auch, wenn ich das nicht bin, ist das, was ich tue, doch fast schlimmer als jeder Wetterzauber.«
»Sag so was nicht, Liebste. Wer vermag schon zu beurteilen, ob eine Sünde schwerer wiegt als eine andere?«, versuchte Johann ihre Worte zu entkräften, wenngleich er sehr wohl verstand, wovon sie sprach. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu ihrem Bauch. Sie war die Frau eines anderen, und nun, da sie mit Walthers Kinde schwanger war, war die Liebe, die immer wieder zwischen ihnen entflammte, eine noch größere Sünde. Ja, Runa legte ihrer Seele Schlimmes auf, doch sie war nicht die Einzige. »Auch ich bin ein Sünder«, verkündete er überzeugt und erschüttert zugleich. »Glaube mir, Runa, meine Schuld lastet ebenso schwer auf mir wie deine auf dir. Sieben Jahre lang habe ich versucht dagegen anzukämpfen, doch es ist mir nicht gelungen, mich von meiner Liebe zu dir zu befreien. Den Beweis dafür trage ich immer mit mir.« Johann zog sein Hemd aus und entblößte die unzähligen Narben auf seiner Brust und seinem Rücken, die die Geißelung in sein Fleisch getrieben hatte.
Erschrocken blickte Runa
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