Tochter des Ratsherrn
fing sie an, auf und ab zu gehen, wie es ihr Vater stets zu tun beliebte, wenn er nachdachte. Zwischendurch hielt sie inne und horchte, ob sie Schritte vernahm oder das Klirren eines Schlüssels, doch nichts dergleichen drang an ihr Ohr. Sie fragte sich, was wohl passiert war, nachdem man sie niedergeschlagen hatte. Wo waren ihre Kinder, wo waren ihre Mutter, Marga und Margareta? Was war aus Walther und was aus Godeke geworden? Versuchten sie bereits alles, um sie zu befreien? Ganz gewiss taten sie das! Und wenn nicht?
Ihre Versuche sich zu beruhigen, scheiterten immer an genau dieser Frage: Was passierte, wenn es ihrer Familie nicht gelingen sollte, sie aus dem Verlies zu holen? Was würde dann aus ihr werden? Runa hatte keine Ahnung von Hexenprozessen, doch sie wusste, dass weder die Bürger noch die Richter besonders zaghaft mit diesen Frauen umgingen. Warum sollten sie auch? Hexen beeinflussten schließlich das Wetter, auf dass die Ernte auf den Feldern verdarb, und sie schickten Unfälle, Krankheit, ja sogar den Tod über die Menschen. Hexen verdienten wahrlich kein Mitleid und keine Gnade – aber sie war doch gar keine Hexe! Wie sollte sie das nur deutlich machen?
Immer wieder keimte unbändige Verzweiflung in ihr auf, die sie erneut weinen und um Hilfe schreien ließ. Erst als vor lauter Klagen ihre Stimme versagte, setzte sie sich wieder auf den kalten Boden und lehnte sich gegen die groben Mauern.
Müde schloss sie die Augen. Jetzt gab es nur eines, was sie noch tröstete: Schlimmer konnte es einfach nicht mehr werden. Runa hatte keine Ahnung, wie sehr sie sich täuschte.
Nach Stunden der unerträglichen Stille vernahm sie plötzlich Schritte von mindestens zwei oder drei Männern. Sie kamen eine Treppe herunter und gingen an Runas Verlies vorbei. So schnell es ihr Bauch zuließ, stürmte sie zur Tür und hämmerte mit ihren Fäusten dagegen.
»Hallo! Hallo! Wer ist da? Öffnet die Tür! Ich flehe Euch an! Bitte, lasst mich hier raus, oder schickt nach meiner Familie! Ich bin keine Hexe. Das ist alles ein Irrtum! Es wird sich bald zeigen, dass ich unschuldig bin. Versteht Ihr, was ich sage?«
»Ha, hör dir die an«, ertönte da eine Männerstimme.
»Ja, immer das Gleiche. Sie sind alle unschuldig, und es handelt sich stets um ein Missverständnis«, spottete ein anderer Mann. Gelächter ertönte.
Doch Runa ließ sich von den Grobheiten nicht abschrecken. Vielleicht kam so schnell niemand mehr hierher. Sie musste versuchen, die Herzen der Männer zu erweichen. »Aber ich habe nichts getan. Bitte glaubt mir doch. Ich kann alles erklären. Man hat mich …«
»Dein Jammern ist zwecklos, Hexe. Die Tür des Verlieses wird sich erst öffnen, wenn der Richter dich holen kommt. Bis dahin kannst du dir deine Worte sparen.«
»Ja, genau«, setzte der andere nach. »Und dann wollen wir mal sehen, ob Satan und dein schwarzer Zauber dir helfen werden, du teuflisches Frauenzimmer.«
»Bist du denn des Wahnsinns, Mann?«, fragte der eine plötzlich verschreckt. »Warum forderst du sie heraus? Was ist, wenn sie uns jetzt verhext?«
»Durch die Tür? So was geht doch nur, wenn sie uns direkt in die Augen schauen kann. Es heißt schließlich böser Blick , du Narr.«
»Ach ja? Woher willst du so genau wissen, dass diese Hexe nicht auch durch Türen hexen kann? Wie viele Zauberinnen hast du denn schon kennengelernt?«
»Ha, sicher mehr als du. Die Hanna in meiner Straße zum Beispiel. Sie hatte mich vor zwei Jahren mit einem Liebeszauber verhext. Ich kann es zwar nicht beweisen, aber …«
»Bitte, so hört mir doch zu«, unterbrach Runa die streitenden Männer plötzlich, die sie völlig vergessen zu haben schienen. »Ich bin keine Hexe, und ich werde Euch auch nicht verzaubern. Ich flehe Euch nur an, öffnet mir die Tür. Ich … ich bin eine schwangere Frau. Was soll denn aus meinem Kind werden, wenn ich hier alleine niederkommen muss?« Runa versuchte ihrer Stimme etwas Schmeichelndes zu verleihen, um die Wachen zu erweichen. »Sagt, Ihr tüchtigen und ehrlichen Männer, lasst Ihr mich gehen, oder schickt Ihr wenigstens nach einer Hebamme für mich? Ich weiß, Ihr seid gottesfürchtig und erkennt den Unterschied zwischen einer Hexe und einem gewöhnlichen Weib.«
Plötzlich stapfte einer der Kerle mit hörbar schnellen Schritten auf Runas Tür zu. Doch anstatt sie zu öffnen, trat er so heftig dagegen, dass Runa einen gewaltigen Schreck bekam und von der Tür zurückwich. »Halt endlich dein Maul, Hexe.
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