Tochter des Ratsherrn
bemerkte er, dass der Beutel mit den Münzen fort war. Natürlich war er das! Schließlich hatte man ihn deshalb überfallen! Wo, verdammt noch mal, war er hier nur?
Plötzlich vernahm er vor der Hütte Geräusche. Stimmen und Hufgeklapper, ein gehetztes Wiehern. Millie! Thiderich hätte seine Stute unter Tausenden erkannt. Einer abrupten Eingebung folgend wollte er sich erheben, doch gleich nach der ersten Bewegung wurde er von dicken Seilen zurückgerissen. Erst jetzt bemerkte er, dass er an die Wand gefesselt war – auch das hätte er sich denken können. Es blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten.
Dann traten sie ein, zwei Frauen und ein Mann. Mit einem abschätzigen Blick auf ihren Gefangenen sagte eine der Frauen: »Sieh mal einer an, er ist doch noch am Leben.«
Thiderich sah die Frau eindringlich an. Er kannte sie, auch wenn er sie vor vielen Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Es war am Tage der Hinrichtung von Alberts feindlich gesinntem Bruder gewesen.
»Luburgis. Du bist doch das Weib des toten Conrad von Holdenstede.«
»Ganz recht«, antwortete diese mit einem Hochmut, der in starkem Kontrast zu ihrem schäbigen Aussehen stand.
Neben ihr befand sich ein Mann. Auch ihn erkannte Thiderich sofort. Es war Bodo, der Bote, der ihn bereits damals in Friesland, als er auf der Suche nach Albert gewesen war, fast umgebracht hatte. Thiderich hegte keinen Zweifel daran, dass der grobschlächtige Hüne auch diesmal wieder die Keule geschwungen hatte, die ihn von Millies Rücken gerissen hatte. Seine Gegenwart war kein gutes Zeichen.
Neben Bodo stand die zweite Frau. Und diese war, zu Thiderichs grenzenloser Überraschung, Runas Magd. »Johanna? Was tust du denn hier?«
Die Angesprochene setzte ein boshaftes Lächeln auf und kam auf Thiderich zu. Dann zog sie sich langsam die Haube vom Kopf und entblößte wortlos ihren Oberleib. Zwei zerknüllte Lumpen kamen an der Stelle zum Vorschein, wo eigentlich ihr Busen hätte sein müssen. Die enthüllte weiße Brust der Magd war tatsächlich die eines schmalen Jungen. »Mein Name ist Johannes. Ich bin älter geworden, doch du kennst mich. Das letzte Mal sind wir uns vor über sechs Jahren begegnet, vor meiner Flucht aus der Stadt. Ich bin Godekes ungleicher Zwillingsbruder.«
Thiderich schnappte nach Luft. Das konnte einfach nicht sein. Johanna war Johannes? Die ganze Zeit über hatte niemand etwas bemerkt? Nachdem er sich wieder gesammelt hatte, verstand Thiderich den Sinn seiner Verkleidung. Runa! Walther! Die vermeintliche Magd hatte sie alle ausgehorcht. Thiderich wollte etwas erwidern, doch sein Erstaunen über diese gewaltige Täuschung war einfach zu groß. Ein unpassender Gedanke schoss ihm in diesem Moment durch den Kopf: Schon als Magd war Johannes keine Schönheit gewesen, doch als Mann war er von geradezu grotesker Hässlichkeit. Die Zwillingsbrüder hatten einfach nichts miteinander gemein.
Johannes hatte sich so sehr auf diesen Moment der Enthüllung gefreut, dass seine Erwartungen nun enttäuscht wurden. Der verblüffte Gesichtsausdruck seines Gefangenen entschädigte ihn nur unzureichend. Wütend darüber, dass Thiderich ihm keinen Grund für derbe Worte oder Beschimpfungen lieferte, wandte er sich ab und sagte: »Starr mich gefälligst nicht so an, du Pfeffersack.«
Thiderich war verwirrt. Bis vor Kurzem hatte er noch geglaubt, wegen seiner Geldkatze überfallen worden zu sein, doch nun, da er der Räuber ansichtig geworden war, konnte er sich den Grund des Überfalls nicht mehr erklären.
Gewiss konnte jedermann ein paar Münzen gebrauchen, auch dieses Pack, doch er war sich sicher, dass es hierbei um etwas anderes ging. Thiderich versuchte sich zu konzentrieren. Offensichtlich wollten sie ihn nicht töten, denn das hätten sie schon längst tun können. Warum also war er hier, und was konnte Luburgis von ihm wollen? Sie war doch die Frau von Alberts Feind. Was hatte er damit zu tun? Auch Bodos Erscheinen war für Thiderich unerklärlich. Weshalb war er nach so vielen Jahren wieder aufgetaucht, und wer schickte ihn? Er war ein roher Bote; unfähig, selbst zu denken. Bodo brauchte jemanden, der ihm sagte, was er zu tun hatte. Doch wer konnte das sein? Noch machte das alles für ihn keinen Sinn, aber das konnte auch an seinen hämmernden Kopfschmerzen liegen. Zu gerne hätte er sich die schmerzende Stirn gehalten oder sich das getrocknete Blut aus dem Gesicht gerieben, doch seine Fesseln zwangen ihn zum Verharren.
Noch während er seine
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