Tochter des Ratsherrn
Everard dich hört. Eines kann ich dir sagen: Er ist wirklich über alle Maßen fromm und würde kein anderes Heilmittel als das Gebet gutheißen.«
Kethe nickte ihrer Freundin verständnisvoll zu. »Bestimmt ist das Gebet das wirksamste Mittel gegen jedes Übel, doch Gott hat uns ebenso die Kräuter geschenkt. Wie könnte es dann falsch sein, sie anzuwenden?« Die Begine blickte kopfschüttelnd auf ihre grün eingefärbten Fingerspitzen. Es waren nicht Runas Worte, die sie so verzagt dreinschauen ließen. Viele Geistliche taten die heilenden Salben und Tinkturen der Konventsfrauen als Teufelszeug ab. Fast kam es Kethe so vor, als ob die Männer sich davor fürchteten und das Handwerk der Kräuterfrauen deshalb schmähten. Dabei konnte so viel Gutes dadurch bewirkt werden. Doch solange die Männer dies nicht einsahen, würde Kethe weiterhin vorsichtig bei der Anwendung ihrer Kunst sein müssen.
Runa wickelte die Leinendecken noch ein wenig fester um Avas Leib, bevor sie mit ihrer Freundin die Kammer verließ und die Türe hinter sich schloss.
Stille kehrte ein, nur das flache Atmen der Schlafenden war zu vernehmen. Eine ganze Weile blieb es ruhig, dann kroch plötzlich eine Gestalt unter dem Bett hervor, die sich während des Gesprächs der beiden Frauen verborgen gehalten hatte. Es war eine Frau, klein und zierlich, die sich nun zitternd vor Angst, entdeckt zu werden, und der Aufregung über das eben Gehörte aufrichtete. Mit einem raschen Blick durch die Kammer versicherte sie sich, dass sie auch wirklich alleine war, dann trat sie an das Bett der Schlafenden.
Blass und eingefallen lag Ava da. Wehrlos.
Mit unverhohlener Neugierde reckte die Frau den Hals und brachte ihr Gesicht ganz nah an das von Ava. Sofort stieg ihr ein Duft in die Nase – der Duft von Kräutern. Sie hatte nichts anderes erwartet. Im Mundwinkel der Geschwächten erblickte sie ein letztes Tröpfchen der grünlichen Flüssigkeit, das sie vorsichtig mit dem Ärmel aufwischte. Sofort sog das Leinen ihrer groben Kleidung den Trunk auf, und es bildete sich ein grüner, nach Kräutern duftender Fleck, der die Größe eines Fingernagels hatte.
Ein Lächeln umspielte den Mund der Frau, als sie die Verfärbung betrachtete. Dieser Fleck war ihre Waffe. Sie würde sie wohl einzusetzen wissen. Und schon bald, dessen war sie sich sicher, würde nichts mehr sein, wie es vorher einmal war.
Das Haus in der Reichenstraße war voller geworden in den letzten Wochen. Nunmehr vier Frauen, zwei Kinder und zwei Männer bewohnten die Kammern, und dennoch war es still in seinem Inneren.
Ava schlief viel, und selbst wenn sie wach war, wirkte sie abwesend aus Sorge um Thiderich. Johannas Lippen blieben ohnehin stumm, und Agnes war noch nie eines dieser geschwätzigen Mädchen gewesen. Am auffälligsten jedoch war die Stille zwischen Walther und Vater Everard. Selbst Freyja und Thymmo blieb das nicht verborgen, und Runa hatte alle Mühe, ihre Fragen zu beantworten.
Wer genau war Vater Everard, und warum war er plötzlich hier? Sie selbst wusste darauf keine Antwort – wie hätte sie es dann den Kindern erklären können? Runa hatte gehofft, dass der Priester eines Tages mehr erzählen würde, aber sie irrte, und so blieben die quälenden Fragen, die alles zu überschatten schienen, weiterhin bestehen.
Dafür hatte sich etwas anderes verändert. Der Priester, der Runa anfänglich sehr freundlich und gutherzig vorgekommen war, ließ plötzlich eine andere Seite von sich erkennen. Immer häufiger suchte er die Kinder auf und sogar die Mädge, um mit flammenden Worten aus der Heiligen Schrift zu zitieren. Seine Predigten klangen dabei sehr streng und wurden stets von einem belehrend erhobenen Zeigefinger unterstrichen. Mit welchem Bibelvers er auch begann, schlussendlich landete er immer bei Tod und Teufel, Fegefeuer und Sünde.
Jedes Mal waren die Gesichter seiner Zuhörer schon nach wenigen Worten von Furcht und Schrecken gezeichnet. Mehr und mehr beschlich Runa ein Gefühl der Beklemmung, und es war nur folgerichtig, dass sie sich plötzlich vorkam, als wäre sie eingesperrt in ihrem eigenen Haus. Um nicht Vater Everards Missbilligung zu erregen, benahm sie sich ganz so, wie es sich für eine sittsame Christenfrau geziemte: Sie stickte, gehorchte und schwieg. Bisher ließ er sie zwar in Frieden, doch sie war sich sicher, dass auch ihr Glauben eines Tages von ihm überprüft werden würde. Es graute ihr jetzt schon davor.
Runa war, genau wie ihre Mutter, keine
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