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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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nicht so vertraut. Landon dachte, es würde weise sein, das Spiel zu beenden, ehe es anfing, Ernst zu werden. Er sagte:
    »Es wird soviel über Lebenskunst geredet. Ich habe immer gefunden, daß meist viel Künstlichkeit mit im Spiel ist. Puder und Schminke und Karnevalsmaske.«
    »Und was steckt darunter?«
    »Männer und Frauen.«
    »Was für welche?«
    »Alle möglichen. Meist einsame.«
    Er wußte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. So fing die Affäre an. Die erste Intimität. Der Spalt in der Rüstung, der das Herz für die Klinge entblößte. Und die Klinge kam schneller, als er sich hätte träumen lassen.
    »Das war es also, was ich in Ihrem Gesicht gelesen hatte, Peter. Sie waren einsam. Sie sind wie der Vogel da oben. Hoch, frei – mit der ganzen Welt unter den Schwingen. Und doch waren Sie einsam.« Ihre Finger preßten sich in seine Handfläche. Er spürte die Wärme ihres Körpers und roch den Hauch ihres schweren Parfüms. »Ich bin auch einsam.«
    Er fragte kühl: »Mit so viel, Valeria? Mit Ihrem Vater und Carlo – und Basilio als Zugabe?«
    Er war auf einen Zornausbruch gefaßt, sogar auf eine Ohrfeige. Aber sie ließ nur seine Hand los und sagte eisig: »Ich hätte etwas Besseres von Ihnen erwartet, Peter. Macht es mich zur Hure, wenn ich Ihre Hand halte und ein bißchen Wahrheit von mir erzähle? Ich mache kein Geheimnis aus meinen Handlungen und Zuneigungen. Aber Sie – Sie müssen sich selber schrecklich verachten. Jede Frau tut mir leid, die Sie zu lieben versucht.«
    Und dann, als ob die eine Erniedrigung nicht genügte, stand Carlo plötzlich vor ihnen auf dem Weg und sagte mit kühler Höflichkeit:
    »Ich fürchte, Ihr werdet mich zum Mittagessen entschuldigen müssen. Im Dorf ist etwas passiert. Man hat mich gebeten, zu helfen. Ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde.«
    Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern machte auf dem Absatz kehrt und ging. Landon stammelte eine Entschuldigung, unbeholfen wie ein Schuljunge.
    »Ich weiß nicht, wie ich Sie um Verzeihung bitten soll. Ich – ich kann nur versuchen, zu erklären. Mein Beruf bringt schlechte Gewohnheiten mit sich. Man ist wie ein Beichtvater, auf den die Leute ihre Beschwerlichkeiten abladen. Und dadurch fühlt man sich manchmal ein bißchen wie Gott auf dem Thron des Jüngsten Gerichts. Das ist das eine. Dazu kommt noch, daß viele Patienten versuchen, in ihrem Psychiater jemand anderen zu sehen – einen Vater, eine Mutter, einen Geliebten. Es ist ein Krankheitssymptom. Wir nennen es Transferenz. Und wir haben unsere eigene Verteidigung dagegen – eine Art klinische Brutalität. Das Unglück ist, daß wir uns dieser Waffe auch Menschen gegenüber bedienen, die gar nicht unsere Patienten sind. Eine Art Feigheit ist das, und Sie haben recht, wenn Sie sagen, daß ich mich dafür verachte. Es tut mir schrecklich leid, Valeria.«
    Eine Weile stand sie schweigend an eine steinerne Urne gelehnt und zupfte die Blätter von einer Oleanderblüte. Sie hatte ihr Gesicht abgewandt, und als sie schließlich sprach, war ihre Stimme dunkel: »Wir sind alle Feiglinge, Peter, nicht wahr? Und wir sind alle brutal, wenn jemand unsere verschwiegenen Ängste anrührt. Ich bin brutal zu Carlo, das weiß ich. Und er ist auf seine Weise auch grausam zu mir. Selbst mein Vater, der doch tapfer wie ein alter Löwe ist, bereitet denen, die er liebt, ein Fegefeuer. Und doch brauchen wir einander. Wenn wir niemanden haben, dem wir weh tun können, können wir nur uns selber weh tun, und das ist das Schlimmste von allem. Aber wie lange können wir so leben, ohne einander völlig zu vernichten?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Peter Landon finster. Und er fragte sich, wie lange man wohl den Stachel des Ehrgeizes ertragen konnte. Wie hoch man allein steigen konnte, ehe man in Verzweiflung und Desillusion stürzte.

2
    Die Polizeistation von San Stefano war erfüllt von Zigarettenrauch und dem Geruch von Käse und abgestandenem Wein. Sergeant Fiorello saß betont unbeteiligt an seinem Tisch und schrieb eine Aussageniederschrift ab. Fra Bonifazio stand mit dem Rücken zu ihm, während der Anwalt Carlo Rienzi auf Anna Albertini einredete.
    »Fra Bonifazio hat mir ein wenig von Ihrer Vergangenheit erzählt, Anna. Ich will Ihnen gerne helfen, aber es gibt da gewisse Dinge, die Sie zunächst einmal verstehen müssen.« Seine Stimme nahm den geduldig-erklärenden Tonfall eines Lehrers vor geistig zurückgebliebenen Schülern an. »Zum Beispiel

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