Tochter des Schweigens
müssen Sie sich darüber klar sein, daß ein Anwalt kein Zauberer ist. Er kann nicht beweisen, daß Schwarz Weiß ist. Er kann nichts ungeschehen machen. Er kann keine Toten ins Leben zurückrufen. Er kann nichts weiter tun als Ihnen seine Kenntnis des Rechts zugute kommen lassen und Ihren Fall vor Gericht vertreten. Vor allen Dingen muß der Klient seine Dienste in Anspruch nehmen wollen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Vielleicht war es nur eine Illusion, aber einen Augenblick schien es, als husche die Andeutung eines Lächelns um die blassen Lippen des Mädchens. Sie sagte ernsthaft:
»Ich habe keine große Schulbildung. Aber ich weiß, was ein Anwalt ist. Sie brauchen mich nicht wie ein Kind zu behandeln.«
Rienzi wurde rot und biß sich auf die Lippen. Er kam sich sehr jung und linkisch vor, faßte sich aber und fuhr bestimmter fort:
»Dann wissen Sie auch, was Sie getan haben und was die Konsequenzen sind?«
Anna Albertini nickte auf ihre ruhige, unbeteiligte Art. »O ja, ich habe immer gewußt, was geschehen würde. Ich mache mir gar keine Sorgen deswegen.«
»Jetzt vielleicht nicht. Aber später, wenn Sie vor Gericht stehen und Ihr Urteil hören. Wenn man Sie wegführt, in Häftlingskleider steckt und hinter Gitter sperrt.«
»Ganz gleich, wohin man mich bringt – es kann mir nichts anhaben. Ich bin jetzt frei, verstehen Sie – und glücklich.«
Zum erstenmal mischte sich der alte Pater in die Unterredung. Er sagte leise:
»Anna, mein Kind, heute ist ein seltsamer und schrecklicher Tag. Du kannst jetzt überhaupt nicht sagen, wie du dich morgen fühlen wirst. Auf jeden Fall – ob du es nun willst oder nicht –, das Gericht wird darauf bestehen, daß du einen Anwalt hast. Und ich glaube, es ist besser, du hast einen Anwalt, der ein bißchen mit dem Herzen dabei ist, wie Herr Rienzi hier.«
»Ich hab' kein Geld, ihn zu bezahlen.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken.«
»Dann wird es schon richtig sein, nehme ich an.«
Rienzi war von ihrer Gleichgültigkeit schockiert und sagte ärgerlich: »Wir brauchen ein bißchen mehr als das. Wollen Sie bitte Sergeant Fiorello erklären, daß Sie mich als Ihren Rechtsvertreter bestellen wollen?«
»Wenn Sie es wünschen.«
»Ich hab's gehört.« Fiorello sah grinsend auf. »Ich werde es zu den Akten nehmen. Aber ich glaube, Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit.«
»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Anna Albertini mit seltsamer Einfältigkeit. »Ich weiß, Sie können nichts für mich tun. Warum machen Sie und Fra Bonifazio sich also die Mühe?«
»Ich versuche, eine Schuld zu bezahlen, Anna«, sagte der Pater leise.
Carlo Rienzi raffte seine Notizen zusammen, steckte sie in die Tasche und stand auf. Er sagte knapp:
»Sie werden zunächst in Siena verhört werden, Anna. Danach wird man Sie in Untersuchungshaft entweder ins Stadtgefängnis oder, was wahrscheinlicher ist, in die Frauenanstalt in San Gimignano bringen. Wo immer Sie sein werden, ich werde Sie morgen aufsuchen. Und ängstigen Sie sich nicht zu sehr.«
»Ich ängstige mich überhaupt nicht«, sagte Anna Albertini. »Heute nacht werd' ich, glaube ich, ohne Alpträume schlafen.«
»Gott sei mit dir.« Fra Bonifazio schlug das Kreuz über dem dunklen Kopf des Mädchens und wandte sich ab.
Rienzi stand schon an der Tür und sprach mit Fiorello. »Wenn wir die Verteidigung vorbereiten, würde ich mich gern einmal mit Ihnen unterhalten, Sergeant.«
»Das wird nicht gehen, fürchte ich.« Fiorellos Gesicht war eine leere Maske. »Ich werde ein Zeuge der Anklage sein.«
»Dann werden wir uns vor Gericht unterhalten«, sagte Rienzi knapp und trat auf die von Menschen wimmelnde sonnenbeschienene Piazza, dem kleinen Franziskaner auf den Fersen.
Die Menge teilte sich vor ihnen. Man starrte sie an und deutete flüsternd auf sie, als wären sie Jahrmarktsungeheuer, bis sie im kühlen Schatten von San Stefano verschwanden.
Das Mittagessen in der Villa Ascolini war ein Dreikampf, den der geschliffene Witz des alten Advokaten beherrschte. Carlos Abwesenheit wurde mit einem Schulterzucken hingenommen und, wie Landon vermutete, mit einer gewissen Erleichterung. Der Zwischenfall im Dorf wurde mit einer um Verzeihung bittenden Geste abgetan. Weder Ascolini noch Valeria fragten, was eigentlich geschehen war. Und als Landon nicht lockerließ, hielt Ascolini ihm ein ironisches Kolleg über die Praktiken des Feudalsystems.
»… wir leben den größten Teil des Jahres in Rom. Aber als Eigentümer der
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