Tochter des Schweigens
Die Verteidigung hat nur zwei Möglichkeiten: Unzurechnungsfähigkeit oder mildernde Umstände. Wenn wir auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren wollen, so müssen wir uns auf psychiatrische Gutachten stützen können – dem Mädchen wäre wohl kaum damit geholfen. Sie käme in ein Irrenhaus, statt in ein Gefängnis. Plädieren wir auf mildernde Umstände, haben wir wiederum die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Provokation oder verminderte Zurechnungsfähigkeit – ein Richter ist kein Beichtvater. Das Gesetz kümmert sich nur in begrenztem Umfang um moralische Schuld. Wohl befaßt es sich mit der Frage der Verantwortlichkeit, aber im sozialen, und nicht im moralischen Sinne.« Er lächelte und hob bedauernd die Hände. »Verzeihen Sie mir, Pater, aber in diesem Fall sind unsere Rollen nun einmal vertauscht. Im Interesse meines Klienten dürfen Sie mich nicht juristisch in die Irre führen.«
Der alte Mann dachte eine Weile darüber nach und nickte dann zögernd Zustimmung.
»Jeder Gewaltakt ist eine Art Irrsinn, mein Sohn. Aber ich möchte bezweifeln, daß Anna Albertini im juristischen Sinne irr ist. Was nun mildernde Umstände betrifft – ich glaube, da könnte ich Ihnen helfen. Wenn ich auch nicht sagen könnte, welchen Gebrauch Sie von meiner Aussage machen sollen. Von dieser Geschichte gibt es zwei Versionen. Die erste wird vor Gericht vorgetragen werden, denn sie ist die aktenkundige. Die zweite …« Er brach ab und starrte lange auf seine verschränkten sommersprossigen Hände. »… ich kenne die zweite Version, aber ich kann sie Ihnen nicht verraten, weil ich sie unter dem Beichtsiegel erfahren habe. Ich kann Ihnen nur sagen, daß es sie gibt und daß Sie sie selber herausfinden müssen. Ob Sie sie werden beweisen können, ist wieder eine andere Frage. Und selbst dann noch bezweifle ich, ob sie vor Gericht überhaupt einen Wert hat.« Seine Stimme zitterte, und seine Augen füllten sich mit den Tränen des Alters. »Gerechtigkeit, mein Sohn, wie oft wird sie eben durch die Einrichtungen und Menschen entstellt, die sie aufrechterhalten sollen. Sie haben Anna gesehen. Sie ist vierundzwanzig. Vor sechzehn Jahren sah ich sie zum letztenmal. Ein achtjähriges Kind, das Blumen auf das Grab seiner Mutter legte und mit einem Stück Blech eine Inschrift in die Friedhofsmauer kratzte. Sie ist noch da – ich werde sie Ihnen später zeigen –«
Trotz seines berufsbedingten Abstandes und seiner eigenen privaten Sorgen war Rienzi doch von der Ausweglosigkeit der Lage bewegt, in der der alte Mann sich befand. Er selber war mit Schuld vertraut, und auch mit der Unmöglichkeit, sich davon zu befreien.
Er erinnerte den Pater leise:
»Die offizielle Version, Pater – wo fängt sie an? Wo ist sie niedergeschrieben? Wer kann sie mir erzählen?«
»Jeder Mensch in San Stefano. Der Bericht ist bei Sergeant Fiorellos Akten und von einem halben Dutzend Männern bezeugt. Die Geschichte beginnt im letzten Kriegsjahr, als die Deutschen dieses Gebiet hier beherrschten und Gianbattista Belloni eine Partisaneneinheit im Hügelland führte. Es war, wie Sie wissen, eine wirre Zeit der Verdächtigungen und blutigen Fehden. Anna lebte damals mit ihrer Mutter im Dorf. Agnese Moschetti war die Witwe eines gefallenen Libyen-Kämpfers. Eine Zeitlang lag eine kleine Abteilung im Dorf, und einige von ihnen waren in Agnese Moschettis Haus einquartiert. Als sie abrückten, wurde sie der Kollaboration und des Verrates an den Partisanen angeklagt. Sie wurde vor ein Standgericht der Partisanen zitiert, schuldig befunden und von einem Exekutionskommando erschossen. Gianbattista Belloni saß dem Gericht vor und unterzeichnete das Todesurteil. Nach dem Waffenstillstand wurde das Protokoll der Verhandlung zu den Polizeiakten des Dorfes gegeben. Wenige Jahre darauf wurde Belloni Bürgermeister und vom Staatspräsidenten für Tapferkeit vor dem Feinde mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.« Er brach ab und wischte sich die Lippen, als wollte er sich von einem bitteren Geschmack befreien. Rienzi fragte:
»Und was steht über Anna Albertini darin?«
»Es wird lediglich ihre Existenz erwähnt und die Tatsache, daß sie in die Obhut von Fra Bonifazio gegeben wurde, der sie zu Verwandten nach Florenz brachte.«
»Wo war sie, während ihre Mutter vor dem Standgericht stand und exekutiert wurde?«
»Darüber steht nichts in den Akten.«
»Aber Sie wissen es?«
»Unter dem Beichtsiegel.«
»Anna selber hat es Ihnen nie erzählt?«
»Seit
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