Tochter des Schweigens
wie von einem Steuereintreiber. Ich nehme Anteil an dir, das ist wahr. Ich bin an deinem Glück interessiert – ist das eine Forderung? Habe ich dir je irgend etwas verwehrt? Und sei es auch nur das Recht, jung und töricht zu sein?«
Zum erstenmal hob sie den Kopf und sah ihn an, halb feindselig, halb flehend.
»Aber siehst du denn nicht, daß die Hälfte von allem stets für dich war? Carlo – er ist ja dein Geschöpf in erster Linie. Du hast ihn geschaffen und mir übergeben, wie ein Pony zum Spielen, und hattest doch stets eine Hand am Zügel. Die anderen, auch sie waren deine Geschöpfe – Ablenkungen für die unglückliche Braut. Kavaliere, von einem nachsichtigen Vater genehmigt. Sie waren Romanzen, die deine eigene Jugend wiedererstehen ließen.«
»Und du hast sie angenommen, meine Liebe. Du warst dankbar, erinnere ich mich.«
»Auch das hast du mich gelehrt.« Die Worte sprudelten voll Bitterkeit aus ihr. »Sag danke schön, wie ein gutes Kind. Doch sobald ich etwas für mich allein wollte – wie Basilio – ah, das war etwas anderes!«
Zum erstenmal verdunkelte so etwas wie Zorn seine glatten rosa Wangen.
»Lazzaro ist ein Lump! Er paßt nicht zu einer Frau von Geburt und Abstammung!«
»Abstammung, Vater, wovon stammen wir schon ab? Du warst ein Bauernsohn. Du hast arm geheiratet und hast es bedauert, als du zu Ruhm gelangtest. Du warst froh, als sie starb. Und ich? Weißt du, was ich werden sollte? Eine Frau, wie du sie immer gewollt und nie gehabt hast. Weißt du, warum du nie wieder geheiratet hast? Damit niemand neben dir war. Damit du immer verachten konntest, was du brauchtest, und besitzen, was du liebtest.«
»Liebe?« Ascolini sprach das Wort mit düsterer Verachtung aus. »Erzähl mir von Liebe, Valeria. Hast du Carlo etwa geliebt oder Sebastian oder den Südamerikaner oder den Griechen, dem das Geld aus den Ohren quoll? Oder hast du sie bei deinen brünstigen Spielen in der Wohnung dieses Kerls Lazzaro gefunden?«
Sie barg ihr schluchzendes Gesicht in ihren Händen, und er glaubte, er hätte gewonnen. Leise sagte er:
»Wir beide sollten einander nicht weh tun, Kind. Wir sollten ehrlich sein und gestehen, daß das, was zwischen uns ist, das Beste ist, was wir von der Liebe wissen. Für mich ist es das einzige, was zu haben sich lohnt. Für dich wird es mehr geben. Viel mehr. Für dich ist die Welt noch jung. Vielleicht sogar mit Carlo. Doch mußt auch du deinen Teil dazu beitragen. Er ist ein Junge, aber du bist eine erfahrene Frau. Du mußt anfangen, dich auf das Leben einer Frau vorzubereiten – auf ein Heim und auf Kinder, in ein, zwei Jahren will ich mich zur Ruhe setzen. Natürlich wird Carlo meine Praxis übernehmen. Du wirst eine gesicherte Zukunft haben. Und du brauchst Kinder, um sie daran teilhaben zu lassen. Der Herbst wird auch zu dir kommen, meine Liebe, so wie er schon zu mir gekommen ist. Und dann wirst du die Kinder brauchen.«
Sie erhob sich langsam aus dem Sessel und stand vor ihm mit der brutalen Frage: »Und wessen Kinder werden es sein, Vater? Carlos? Meine? Oder deine?«
Sie wandte sich ab und verließ ihn. Er war allein in seiner Bibliothek, mit der Weisheit zweier Jahrtausende in den Regalen und nicht einem einzigen Heilmittel gegen die Bitterkeit seiner Desillusionen.
Eine Legende besagte, der kleine Bruder Franziskus habe die Kapelle von San Stefano mit eigenen Händen erbaut. Die Fresken in der Kirche feierten das Ereignis, und im Klostergarten stand eine Statue des kleinen Franz, wie er mit ausgestreckten Armen die Vögel begrüßte, die im Fischteich zu seinen Füßen badeten. Die Luft war kühl, das Licht gedämpft, und die einzigen Laute waren das Sprudeln des Wassers und das Schlurfen von Sandalen durch die Kreuzgänge und Kolonnaden.
Auf einer steinernen Bank saß Carlo Rienzi und lauschte Fra Bonifazios Beichte.
»Ich habe schon gesagt, mein Sohn, was heute geschehen ist, war nur das letzte Kapitel in einer langen, langen Geschichte. Viele Menschen sind darin verwickelt. Ich bin einer der vielen. Und jeder von uns trägt seinen Teil Schuld an dem, was heute geschehen ist.«
Rienzi hob warnend die Hand.
»Einen Augenblick, Pater. Lassen Sie mich erst ein wenig vom Gesetz sprechen. Heute wurde hier ein Mord begangen. Auf den ersten Blick handelt es sich um einen Racheakt für ein Unrecht, das Anna Albertini vor Jahren zugefügt wurde. Die Tat, die Umstände und das Motiv sind unbestritten. Die Staatsanwaltschaft hat einen klaren Fall.
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