Tochter des Schweigens
im spärlichen Schatten, die Zungen vom Durst geschwollen.
Und doch lag über allem das durchdringende Wunder des Lichts: das hohe Geflimmer des südlichen Himmels, der grelle Schein von Stuck und Tuffstein, die bronzenen Schatten in den Spalten der Berge, das Spiegeln der Teiche, das Ocker der Dächer und das Juwelengeglitzer von Vogel- und Heuschreckenflug.
Doch für Ninette Lachaise gab es noch anderes. Jede Pilgerfahrt verlangte Disziplin des Geistes, bedeutete eine Versuchung durch das Unbekannte und einen Griff nach dem Unerreichbaren.
Vor vier Jahren war sie in diese Stadt gekommen, die ›Heimat der Seelen‹, wie manche sie nannten. Als Flüchtling aus einem Pariser Haushalt, beherrscht von einer leidenden Mutter und einem Vater, dessen Leben darin bestand, einer vergangenen glanzvollen Offizierskarriere nachzutrauern. Sie war vor einer Jugend geflohen, die nichts anderes war als ein Vorgeschmack des Alters. Zweierlei war bald geschehen. Ihre Malerei war unversehens zu verblüffender Vollendung herangereift – und eine Woche nach ihrer ersten Ausstellung hatte sie sich Hals über Kopf in eine Affäre mit Basilio Lazzaro gestürzt.
Er war ein Berufsliebhaber, wahllos wie ein Bulle, und das Verhältnis hatte sechs stürmische Monate gedauert. Sie waren ohne Bedauern auseinandergegangen. Und sie ging angeschlagen, doch erweckt daraus hervor, ihrer Fähigkeit zur Leidenschaft bewußt, doch zweifelnd, ob sie sich noch einmal so völlig werde ergeben können. Und noch etwas anderes hatte sie dabei erfahren: Italien war ein Männerland, und es gab keinen Pardon und keine Rettung für eine Frau, die sich in Affären einließ. So hatte sie die Zucht der Kunst gleichzeitig zur Zucht des Fleisches gemacht, während sie übervorsichtig auf den Augenblick einer glücklichen Begegnung wartete.
Aber warten allein genügte nicht – warten auf den Märchenprinzen der Liebe. Es gab in ihrer Natur und in ihrer Lage etwas, das sie noch nicht so recht zu begreifen vermochte. Wie weit würde ihr Talent sie führen? Wie bald mochte die verbreitete Anschauung sie herausfordern, Frauen seien schöpferischer Größe unfähig? Warum fühlte sie sich zu Männern wie Ascolini hingezogen, dem Zyniker und Weisen, und warum mißtraute sie den Jungen so sehr, die nur die Leidenschaft kannten und so wenig wußten? Was hatte sie davon, Visionen für andere festzuhalten, während die grünen Jahre dahinwelkten in die Einsamkeit des Herbstes?
Seit Ascolinis Besuch waren diese Fragen und ein Dutzend andere immer schärfer in ihr Bewußtsein getreten. Es war ein Zeichen ihrer Unsicherheit, daß sie seine Einladung zum Abendessen in der Villa angenommen hatte. Jetzt, wo Valeria Lazzaros Geliebte war und ein unbekannter Ausländer ihr vorgeführt werden sollte wie ein Zuchtbulle dem Interessenten.
Dann, plötzlich, wurde ihr die Komik der Situation klar, und sie begann zu lachen. Ein klares, freies Lachen, das über das Tal hallte, die grasenden Ziegen erschreckte und eine Lerche in den schimmernden Sommerhimmel scheuchte.
In der Bibliothek der Villa veranstaltete Alberto Ascolini, Advokat und Schauspieler, eine große Versöhnungsszene mit seiner Tochter. Es war eine Szene, die er schon oft gespielt hatte, und er besaß darin große Übung. Er stand, eindrucksvoll gegen den Kaminsims gelehnt, ein Glas Brandy in der Hand und ein verschwörerisches Lächeln um die Mundwinkel. Valeria saß, die Hand am Kinn, wie ein kleines Mädchen auf ihren Füßen zusammengekauert in dem Sessel.
Er hob beredt die Schultern und sagte: »Kind, du darfst mir nicht zu sehr grollen. Ich bin ein perverser alter Bock, der über seine eigenen Witze lacht. Aber ich liebe dich zärtlich. Es ist nicht leicht für einen Mann, einer Tochter gleichzeitig Vater und Mutter zu sein. Ich kenne meine Fehler besser als du. Aber daß ich meine Liebe verkaufen soll – das ist mir neu. Und schmerzlich. Ich denke, du solltest dich da etwas deutlicher erklären.«
Valeria Rienzi schüttelte den Kopf. »Du bist hier nicht im Gericht. Ich gehe nicht in den Zeugenstand.«
»Vielleicht nicht, Kind.« Sein Ton war ungerührt, vielleicht ein wenig traurig. »Aber du setzt mich in die Anklagebank. Ich habe doch gewiß das Recht, die Anklage zu hören. Wieso fordere ich Bezahlung für meine Liebe?«
»Du nimmst von allem, was ich tue, deinen Teil.«
»Ich nehme? Ich nehme?« Seine Brauen hoben sich, und er fuhr sich mit der Hand durch seine weiße Mähne. »Du sprichst von mir
Weitere Kostenlose Bücher