Tochter des Schweigens
dem Tode ihrer Mutter habe ich bis zu diesem Tag kein Wort von ihren Lippen gehört. Weder ich noch sonst jemand im Dorf. Am Grab ihrer Mutter hat sie nicht einmal geweint.«
»Sie ist jetzt verheiratet. Wissen Sie etwas über ihren Mann?«
»Nichts. Die Polizei hat nach ihm geschickt.«
»Was sind sonst für Angehörige da?«
»Die Tante, die sie in Florenz aufgenommen hatte. Ich bin nicht mal sicher, daß sie noch am Leben ist.« Seine Schultern fielen nach vorn. »Es ist sechzehn Jahre her, mein Sohn, sechzehn Jahre.«
»Sie haben gesagt, sie hätte etwas an die Friedhofsmauer geschrieben. Kann ich das sehen, bitte?«
»Selbstverständlich.« Er führte Rienzi um das Kloster herum, um den mauerumhegten Friedhof, wo marmorne Cherubine, welkende Kranze und vertrocknete Immortellen stummes Zeugnis der Sterblichkeit ablegten. Ein unbehauener Stein, der nur Geburts- und Todesdatum enthielt und die eine Zeile ›Ruhe in Frieden‹, stand auf Agnese Moschettis Grab. Kaum ein Schritt trennte den Grabstein von der verfallenen Friedhofsmauer. Sie hockten sich an den Boden, um die kindliche Kritzelschrift lesen zu können:
Belloni, eines Tages werde ich dich töten.
Rienzi starrte die Worte lange an, dann fragte er:
»Hat das sonst noch jemand gesehen?«
»Wer weiß?« Der alte Mann hob hilflos die Schultern. »Es steht schon so viele Jahre hier.«
»Wenn das vor Gericht kommt«, flüsterte Rienzi, »sind wir erledigt, bevor wir anfangen. Holen Sie Hammer und Meißel, Mann. Aber rasch!«
Um halb vier Uhr nachmittags erwachte Landon aus einem unruhigen Halbschlaf und sah Carlo in seinem Sessel sitzen und, eine Zigarette im Mund, gelangweilt eine Zeitschrift durchblättern. Seine Schuhe waren staubig und sein Hemd zerknittert. Er sah angestrengt aus und müde. Er berichtete Landon im Telegrammstil über die Ereignisse in San Stefano und schloß:
»Das wäre es, Peter. Die Würfel sind gefallen. Ich habe den Fall übernommen. Ich habe ein paar Kollegen gefunden, die mit mir zusammenarbeiten und mir Zugang zum Gericht von Siena verschaffen. Ich habe meinen ersten Fall.«
»Hast du's deiner Frau oder Ascolini schon gesagt?«
»Noch nicht.« Er lächelte verlegen. »Für eine Weile habe ich Aufregungen genug gehabt. Das hebe ich mir für nach dem Abendessen auf. Außerdem wollte ich zunächst mit dir sprechen. Würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Was für einen Gefallen?«
»Beruflich. Ich würde dich gern als inoffiziellen psychiatrischen Berater haben. Ich möchte, daß du dir das Mädchen ansiehst, eine Diagnose stellst und mich im Hinblick auf etwaige medizinische Möglichkeiten der Verteidigung berätst.«
»Das ist ein ganz schöner Auftrag.« Landon runzelte zweifelnd die Stirn. »Es erheben sich da Fragen von Ethik, kollegialer Höflichkeit und, vor allem, die Frage meiner eigenen rechtlichen Situation.«
»Und wenn du überzeugt wärst, daß eine inoffizielle Beratung nirgendwo Anstoß erregen kann?«
»Dann würde ich die Möglichkeit erwägen. In jedem Fall wäre ich deinem Vater eine Erklärung schuldig. Schließlich bin ich ja sein Gast.«
»Würdest du damit warten, bis ich mit ihm gesprochen habe?«
»Natürlich. Aber ich habe da noch eine Frage an dich, Carlo.« Er zögerte einen Augenblick und stellte dann die entscheidende Frage: »Warum gerade dieser Fall? Auf den ersten Blick spricht praktisch alles gegen deine Mandantin. Es ist dein erster Fall, und ich sehe auch nicht den Schimmer einer Hoffnung, daß du ihn gewinnen könntest.«
Rienzis Gesicht entspannte sich in einem jungenhaften Lächeln und wurde gleich wieder ernst. Er sagte ruhig:
»Eine faire Frage, Peter. Ich will versuchen, sie dir zu beantworten, wie ich sie schon mir selber beantwortet habe. Es ist einfach naiv, zu glauben, daß der Ruhm eines Anwalts nur auf Siege gegründet ist. Ein hoffnungsloser Fall ist oft vorteilhafter als ein todsicherer. Neues Licht auf klassische Antinomien werfen, Kampfansagen gegen anerkannte Prinzipien, eine Strategie, die sich den Widerspruch zwischen Legalität und Gerechtigkeit zunutze macht – das sind die Grundlagen für den Ruf eines Anwalts. Es ist wie in der Medizin, verstehst du? Wer wird berühmt? Der Mann, der einen Durchfall heilt, oder der Mann, der ein Herz für nur zehn Sekunden wieder zum Schlagen bringt? Es gibt kein Mittel gegen den Tod, aber es gibt eine hohe Kunst, ihn hinauszuschieben. Auf einer entsprechenden juristischen Fähigkeit beruht zum Beispiel Ascolinis
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