Tochter des Schweigens
von ihrem Gesang erfüllt zu sein scheint. Es ist so unglaublich schön.«
»Auch einsam, manchmal.«
»Einsam?« Sie sah überrascht zu ihm auf.
»Für den, der drin sitzt und im Dunkeln Chopin spielt.«
»Sie verstehen das nicht, oder?«
»Ich würde's gern verstehen. Aber ich muß es nicht verstehen. Schließlich ist es nicht meine Sache.«
»Carlo hat es soweit kommen lassen. Und ich würde mein Verhalten gern erklären.«
»Hören Sie mal, Valeria!« Er blieb ihr gegenüber unter einem grauen Feigenbaum stehen, von dem aus ein Rotkehlchen sie aufmerksam betrachtete. »Seien Sie sich bitte klar, wer und was ich bin. Ich bin ein Nervenarzt. Ich verbringe meine besten Jahre damit, anderer Leute Kümmernisse anzuhören, und werde dafür bezahlt. Wenn ich das auch außerhalb meiner Sprechstunde tue, beraube ich mich jeder Chance eines normalen Lebens. Andererseits schulden Sie mir keinerlei Erklärungen, nicht einmal wenn Sie sich entschließen, einen Handstand auf dem Dach des Doms machen zu wollen. Wenn das klar ist, höre ich Ihnen zu. Wenn ich Ihnen helfen kann, will ich es gern tun. Und dann: basta.«
»Ich wünschte, ich hätte die Hälfte von Ihrer nüchternen Sachlichkeit.« Die Bitterkeit ihres Tons erschreckte Landon. »Aber Sie haben recht. Ich habe keine Forderung an Sie. Ich rede, Sie hören zu und gehen. Basta. Aber Sie sind nicht halb so kalt, wie Sie andere glauben machen wollen.« Sie nahm wieder seine Hand und führte ihn weiter. Das Rotkehlchen flog ihnen zwitschernd von Ast zu Ast voraus. Er bewunderte ihre Sicherheit, mit der sie von Dingen sprach, die ihr durchaus nicht zur Ehre gereichten. Sie versuchte nichts zu beschönigen und nichts zu verschleiern oder zu dramatisieren. Sie war von einer beunruhigenden, geraden Einfachheit, als sie begann. »Ich weiß, Peter, daß Sie mein Verhältnis zu meinem Vater als unnatürlich empfinden. Und das färbt auf die Vorstellung ab, die Sie von meiner Ehe mit Carlo haben.«
»Wollen wir uns auf ein anderes Wort einigen – 'ungewöhnlich' – und da beginnen?«
»Also gut – ›ungewöhnlich‹. Sie sind liebenswürdiger als mancher meiner anderen Freunde.«
»So ist die Welt nun mal. Die Leute klatschen. Sie lieben den Skandal.«
Es war eine Banalität, doch sie dachte ernsthaft darüber nach, bevor sie fragte:
»Finden Sie es skandalös, Peter?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin Arzt, nicht Sittenrichter. Ich sehe die Dinge mit klinischem Blick. Man muß alle Tatsachen kennen, bevor man die Diagnose stellt.«
»Hier ist die erste: Ich habe lange nur in meiner Welt gelebt und war sehr zufrieden damit. Ich hatte keine Mutter, aber einen Vater, der mich zärtlich liebte und mir Stück für Stück der Welt öffnete. Jede neue Enthüllung war eine Art Wunder. Er verbot mir nichts und hielt mir nichts vor – und doch lehrte er mich irgendwie das Bewahren im Genießen. Er tat, was die meisten Väter nicht tun können: Er lehrte mich verstehen, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Er beantwortete jede Frage, die ich jemals stellte. Ich habe ihn nie bei einer Lüge ertappt. War es unnatürlich, daß ich ihn liebte und immer in meiner Nähe haben wollte?«
»Nein, nicht unnatürlich. Aber, vielleicht, unglücklich.«
»Warum sagen Sie das?« Zum ersten Male schwang etwas wie Angst in ihrer Stimme.
»Weil gewöhnlich die Schwächen und Fehler der Eltern die Kinder zwingen, woanders nach Erfüllung zu suchen – in einer größeren Welt, bei anderen Menschen, in einer anderen Art Liebe. Nicht Ihr Verhältnis ist unnatürlich, unnatürlich ist, daß Sie darin Erfüllung und Befriedigung finden. Ihr Vater ist ein sehr bemerkenswerter Mann – aber er steht nicht für alle Männer und auch nicht für die ganze Welt.«
»Das habe ich schon herausgefunden«, sagte sie leise. »Überrascht Sie das?«
»Ein bißchen.«
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich ihn nie bei einer Lüge ertappt habe. Bis vor kurzem. Es ist mir erst ganz langsam bewußt geworden. Er hatte mir stets erklärt, all seine Fürsorge und seine Ratschläge sollten nur zu meinem Besten sein. Und nun habe ich entdeckt, daß mein Wohlbefinden ein Fonds ist, den er für sich selber geschaffen hat. Ein Kapital, mit dessen Hilfe er seine verlorene Jugend zu erneuern hofft.« Ihr Gesicht umwölkte sich, ihre Stimme wurde unsicher. »Ich soll ihm alles sein, was ich nicht sein kann: Ehefrau, Geliebte, Sohn – und ein Ebenbild Alberto Ascolinis!«
»Und was wollen Sie sein,
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