Tochter des Schweigens
Symptome bestehen in einer akuten Melancholie, einer Art Bedrückung durch Altertümer, und gleichzeitig einem Widerwillen gegen alles Neue. Die Gesichter der Fremden erscheinen finster, wie auf den Zeichnungen von Leonardo da Vinci. Man fühlt sich einsam und fremd. Die Anstrengung, sich in einer anderen Sprache verständigen zu müssen, wird zur unerträglichen Belastung. Das Essen schmeckt nicht. Man sehnt sich nach dem billigsten Wein aus der Heimat.
Es gibt kein Heilmittel gegen diese Krankheit. Man muß sich mit ihr abfinden wie mit einem Malariaanfall. Sie vergeht dann von selbst, ohne irgendwelche Schäden zu hinterlassen. Die beste Behandlungsmethode ist, sie zu ignorieren und einfach weiterzumachen. Ein hübsches Mädchen ist eine große, eine halbe Flasche Schnaps eine unzuverlässige Hilfe.
Aber Landon hatte letzte Nacht zuviel getrunken und war zu angeschlagen, um sich in der neuen Umgebung nach einem Mädchen umzusehen. Also setzte er sich nach einer Stunde planlosen Umherirrens zum Mittagessen in ein Restaurant und rief anschließend Ninette Lachaise an. Ihre Reaktion war äußerst herzlich. Sie sollten, schlug sie vor, zum Abendessen zu Sordello gehen, einem Kellerlokal in der Nähe des Campo, das hauptsächlich von Studenten besucht wurde.
Als sie das rauchige Kellerlokal betraten, ertönten von allen Seiten anerkennende Pfiffe, die Landon aufmunterten.
Ein erfahrener Reisender verliert nicht viel Zeit mit der Einleitung von Freundschaften. Man schließt sie entweder schnell oder gar nicht, man hat keine Geduld für Frauen, die mit einem Lächeln geizen und eine große Oper aus einem gemeinsamen Abendessen machen – man hat keine Zeit zu verlieren, und man verachtet sich manchmal dafür, so abhängig von fremder Gesellschaft zu sein.
Als Landon das Ninette Lachaise erklärte, nahm sie es als Kompliment und gab ihm ihre eigene launige Version dazu.
»Es ist die Strafe für die Freiheit. Die Steuern, die wir dafür bezahlen müssen, daß wir Junggesellen oder Künstler sind. Wenn die Wanderbühne in die Stadt kommt, behalten die Männer ihre Frauen im Auge. Wenn die Hausierer mit ihren Neuheiten auftauchen, machen die ehrlichen Handelsleute die Geldbörsen zu und behalten ihre Töchter zu Hause. Du bist noch immer Scaramouche, chéri , und ich Pierette, leicht in der Liebe und bereit, ihre Töchter und Söhne zum Altar zu entführen. Erst wenn wir alt und berühmt sind, lädt man uns zum Dinner ein.«
»Und doch brauchen sie uns, Ninette. Nur Leute wie du und ich können ihnen zeigen, wie man die Welt verachtet.«
Sie lachte glücklich und biß in eine Olive.
»Freilich brauchen sie uns, Peter. Aber nicht ganz so sehr, wie es uns lieb wäre. Ohne ein, zwei Bilder sind die Wände nackt, und heutzutage ist ein Haus-Psychoanalytiker genauso schick, wie es früher ein Haus-Beichtvater war. Im übrigen«, ihre schmalen Hände wiesen in die Runde, »wäre es ihnen lieber, wir blieben in Bohemia und kämen nur zum Karneval zum Vorschein? Ich bin überzeugt, wir sind jedoch hier bestimmt glücklicher.«
»Und was wird, wenn wir alt werden?«
Sie zuckte die Schultern und schmollte wie eine echte Pariserin.
»Wenn wir alt und töricht werden, bleibt uns nur noch die Straße und die Flasche. Werden wir alt und weise, nehmen wir immer noch gelegentlich die Huldigungen entgegen – wie der da drüben zum Beispiel.«
Sie deutete in einen schattigen Winkel, wo ein weißhaariger Herr mit einem halben Dutzend Studenten saß, die ihm andächtig zuhörten. Am Hutständer neben dem Tisch hingen drei oder vier der seltsamen mittelalterlichen Mützen, deren Farbe zur juristischen Fakultät gehörte. In diesem Augenblick wandte der alte Herr den Kopf, und Landon sah zu seiner Überraschung, daß es Doktor Ascolini war. Er war zu weit weg und zu sehr in seinen Vortrag vertieft, um Landon zu bemerken, doch Landon fühlte eine leichte Röte in seine Wangen steigen. Ninette frage lächelnd:
»Du hast mir gar nicht erzählt, was heute früh geschehen ist, Peter. Möchtest du darüber sprechen?«
Er erzählte es ihr. Während des ganzen Essens. Sie tranken eine Flasche, und noch eine, während Ascolini beredt und geehrt unter seinem studentischen Gefolge saß und Ninette von Zeit zu Zeit behutsam Fragen stellte. Als er geendet hatte, legte sie ihre schlanke Hand auf seine und fragte leise:
»Willst du wissen, was ich denke, Peter?«
»Gern.«
»Ich denke, Valeria ist mehr als halb in dich verliebt. Carlo
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