Tochter des Schweigens
während seine Frau und ihr Vater mit gebeugten Köpfen und niedergeschlagenen Augen am Tisch saßen. Dann setzte auch er sich, und Ascolini begann mit großer Umständlichkeit, das Päckchen zu öffnen.
Endlich hatte er das Geschenk ausgepackt: eine kleine goldene Taschenuhr von exquisiter florentinischer Handarbeit, an einer feingliedrigen Kette. Ascolini zeigte weder Freude noch Enttäuschung, sondern hielt die Uhr in der Hand und übersetzte das klassische Latein der eingravierten Widmung ins Italienische: Seinem berühmten Lehrmeister widmet der dankbare Schüler dieses Geschenk und seinen ersten Fall.
Ascolini ließ die Uhr aus der Hand fallen, so daß sie wie ein Pendel an der Kette schwang. Seine Stimme war verächtlich: »Behalt sie, Junge. Oder bring sie ins Leihhaus. Du wirst es eher nötig haben, als du glaubst.«
Er legte die Uhr vorsichtig auf den Tisch, schob seinen Stuhl zurück und ging aus dem Raum. Carlo sah ihm nach, dann wandte er sich an Valeria und sagte ruhig:
»Und du, meine Liebe? Was hast du zu sagen?«
Langsam hob sie den Kopf und sah ihn mit Augen an, die ihn zu verdammen schienen. Sie sagte leise:
»Ich bin deine Frau, Carlo, wohin du auch gehen magst, ich muß dir folgen. Aber du hast heute abend etwas Schreckliches getan. Ich weiß nicht, ob ich dir jemals vergeben kann.«
Dann ging auch sie, und Landon, Ninette und Rienzi blieben allein zurück. Carlo nahm sein Brandyglas zwischen beide Hände und hob es an seine Lippen. Mit einem kleinen verzerrten Lächeln sagte er:
»Tut mir leid, aber eure Anwesenheit war einfach nötig für mich, um den Mut aufzubringen.« Dann fügte er die traurigsten Worte hinzu, die sie je gehört hatten:
»Seltsam, mein ganzes Leben lang habe ich mich vor der Einsamkeit gefürchtet. Und mein ganzes Leben bin ich einsam gewesen, ohne es zu wissen. Seltsam.«
»Mein ganzes Leben lang«, sagte Peter Landon düster, »habe ich mich mit Gemütskranken beschäftigt. Aber ich glaube, ich bin noch niemals so schockiert worden.«
Ninette Lachaise legte ihre kühle Hand auf sein Handgelenk und sagte:
»Ich glaube, das ist ein Irrtum, Peter. Diese Leute sind nicht krank, nur selbstsüchtig. Ihr ganzes Leben ist ein Kampf. Jeder will zuviel für zuwenig. Sie sind im Netz ihres eigenen Egoismus gefangen.«
»Sie sind eine kluge Frau, Ninette.«
»Vielleicht klüger, als mir guttut.«
Sie saßen in ihrem Wagen, eine halbe Meile außerhalb des Dorfes. Das Mondlicht schien kalt auf die Speerspitzen der Zypressen. Als Carlo gegangen war, hatte Landon die Atmosphäre plötzlich erstickend gefunden und Ninette mit ungewohnter Weichheit gebeten, ihm noch eine Weile Gesellschaft zu leisten. Sie hatte sich bereit erklärt und ihn die gewundene Straße entlanggefahren, bis zu dem Punkt, wo das Land steil in einen See von Dunkelheit abfiel, auf dessen anderer Seite die Hügel zu den matten Sternen kletterten.
Er war froh, ihr gegenüber einen Gedanken aussprechen zu können, der ihn schon lange verwirrte:
»Wissen Sie, was selten ist in der Welt? Ein Mensch, der weise genug ist, der Welt ins Auge zu sehen und sie zu nehmen, wie sie im Augenblick ist, sei es nun gut oder schlecht. Wenn Menschen zu mir kommen oder ich zu ihnen gerufen werde, dann deswegen, weil ich der letzte Meilenstein auf ihrer Flucht vor der Wirklichkeit bin. Ihre Flucht in ein Krankheitssymptom, und die Krankheit ist die subtilste von allen: Angst. Sie haben Angst vor Verlust, vor Schmerz, vor Einsamkeit, vor ihrer eigenen Natur, vor den Verpflichtungen, die ihnen jedes normale Leben auferlegt.«
»Und was ist Ihre Therapie, Peter?«
»Manchmal gibt es keine, manchmal weigert sich der Mechanismus des Geistes, in anderen Bahnen zu laufen als in den psychopathischen. Wenn möglich, versuche ich, sie an der Hand zu nehmen und zurückzuführen zur Wurzel ihres Leidens. Und während ich das tue, versuche ich, ihnen Mut zu machen, sie zu erkennen. Wenn ich Erfolg habe, fangen sie an zu gesunden, wenn nicht …«, er zögerte einen Augenblick und sah über das dunkle Tal, wo die kleine, spärliche Lichtergruppe San Stefano erkennen ließ, »wenn nicht, geht die Flucht weiter.«
»Und wo endet sie?«
»Im Nichts. In der Verneinung des Seins. Manchmal«, fügte er leise hinzu, »frage ich mich, ob ich nicht in mir selber zerstöre, was ich in anderen aufzubauen versuche.«
»Nein, Peter!« Die Wärme in ihrer Stimme überraschte ihn. »Ich habe Sie heute abend mit Carlo beobachtet. Sie sind so
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