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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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und er verfiel in einen angenehm beschaulichen Zustand. Auch Ninette war schweigsam, versunken in die Betrachtung von Licht, Schatten und Farbe. Sie waren getrennt, doch vereint in Harmonie, wie Töne im gleichen Akkord. Sie hatten keine Bedürfnisse, die ihnen ihr Beisammensein nicht erfüllt hätte, keine Ängste, die nicht durch eine Geste oder ein Lächeln schwanden.
    Als das düstere alte Kloster in Sicht kam, das jetzt als Frauengefängnis diente, schauerte Ninette zusammen, drängte sich an Landon und flüsterte:
    »Manchmal, Peter – manchmal habe auch ich Angst.«
    »Wovor, Liebste?«
    »Vor all dem.« Sie deutete auf die besonnte Landschaft und die in der Ferne träumenden Türme von San Gimignano. »Es ist so friedlich. Die Bauern sind einfache Leute, engstirnig, wie überall in der Welt, aber freundlich und sanft im Umgang mit ihren Kindern. Und doch explodiert immer wieder plötzlich etwas, und Gewalt bricht hervor und Haß und tierische Grausamkeit.«
    »Wie in San Stefano?«
    »Ja, genau wie dort. Dieses Mädchen, Peter – bevor du kamst, habe ich ihr Gesicht nach den Fotografien in den Zeitungen skizziert. Ich versuchte, es zu zerlegen, wie ein Künstler das tut. Und ich konnte nichts als Kindlichkeit darin finden. Und dennoch ist das geschehen.«
    »Ich hab' genau dasselbe gedacht, nachdem ich heute früh die Zeitungen gelesen hatte. Es fällt schwer, an die Bosheit in Kindern zu glauben. Aber sie existiert.«
    »Sie erben sie manchmal. Manchmal tritt sie an die Stelle der Liebe. Niemand kann mit leerem Herzen leben.«
    »Aber dieses Mädchen war doch verheiratet. Sie muß doch etwas von Liebe gewußt haben.«
    »Nicht unbedingt. Manchmal ist die Fähigkeit zur Liebe zerstört. Eine Sumpfpflanze stirbt in süßem Boden. Ein Tier, das im Dunkeln aufwächst, ist in der Sonne blind. Sieh Valeria an. Hat ihr jemals Liebe gefehlt?«
    »Wie kommst du auf sie?«
    Ihre Antwort erschreckte ihn.
    »Ich habe letzte Nacht von ihr geträumt, Peter. Und von dir auch. Ihr hieltet im Garten eure Hände. Wie ein Liebespaar. Ich habe nach dir gerufen, aber du hörtest nicht. Ich habe versucht, zu dir zu gehen, aber ich wurde festgehalten. Ich wachte davon auf, daß ich weinend deinen Namen rief.«
    »Liebling, du bist eifersüchtig.«
    »Ich weiß. Albern, nicht wahr?«
    »Sehr albern. Valeria bedeutet mir gar nichts.«
    »Ich frage mich dauernd, ob du ihr wohl etwas bedeutest.«
    »Was sollte ich ihr bedeuten?« Er spürte leise Scham und Verlegenheit.
    »Was wohl?« Sie brach ab und lächelte kläglich. »Du mußt dich mit mir abfinden, chéri. Jede Frau hat ihre Grillen. Meine ist nun mal, auf den Mann, den ich liebe, eifersüchtig zu sein. Aber laß sie uns vergessen und uns über uns selber reden.«
    Und das taten sie auf die glückliche und unbeschwerte Art der Liebenden, während die Dächer und Türme von San Gimignano höher in den Himmel wuchsen. Und Landon sagte ihr auch, daß er bis nach der Gerichtsverhandlung in Siena bleiben und sie dann bitten wolle, seine Frau zu werden.
    Seltsamerweise beunruhigte sie die Erwähnung einer Hochzeit. Als wäre es zu früh zuviel verlangt und könnte die alten Götter Etruriens verführen, ihnen einen Streich zu spielen. Landon neckte sie damit, aber es gelang ihm nicht, den kleinen Schatten zu vertreiben. Wie viele mutige Menschen, die bereit sind, sich mit dem Leben abzufinden, wie es ist, hatte sie eine tiefe unvernünftige Furcht, zuviel von der Zukunft zu verlangen, die Ernte zu schätzen, bevor die Frucht gereift war.
    Auf der Piazza della Cisterna im Herzen der Stadt tranken sie Wein. Landon machte sich den Spaß, den Göttern ein paar Tropfen Wein zum Opfer zu bringen, um sie zu besänftigen. Ninette runzelte die Stirn und bat etwas gereizt: »Tu so was nicht, Peter.«
    »Es ist ein Scherz, Liebling. Es bedeutet doch nichts.«
    »Ich weiß, Peter. Aber ich mag nun mal keinen Pakt mit morgen schließen. Ich will das Heute, so wie es ist, gut oder schlecht. So fühle ich mich sicher. Vielleicht will ich dem Großen nicht ins Auge sehen.«
    »Was soll das heißen?«
    »Vielleicht sterbe ich. Vielleicht wirst du meiner überdrüssig und verläßt mich. Vielleicht werde ich blind und kann nicht mehr malen.«
    »Das ist doch Unsinn.«
    »Ich weiß, chéri. Alles, was nicht geschehen ist, ist Unsinn. Aber wenn es dann geschieht, ist es besser, man ist darauf vorbereitet. Ich ziehe es vor, mit der Zukunft erst zu rechnen, wenn an einem Tag die Sonne

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